Die Vision einer rassisch „reinen“ Türkei
Der 24. April 1915 markiert den Beginn des türkischen Völkermords an den Armeniern. „Keinerlei Zweifel kann bestehen über den tödlichen Haß der jungtürkischen Gewalthaber gegen die Armenier und über ihren tiefinnersten Wunsch, die Gelegenheit des Weltkrieges, der die Türkei unbeaufsichtigt ließ, zu benutzen“, notierte ein Zeitzeuge. Und dieser Genozid sollte zum fatalen Vorbild werden. Bis heute.

Das Armenien, das bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts existierte, ist ausgelöscht. Das Bild, das armenische Bürger zeigt, die von ihren muslimischen Nachbarn und von jungtürkischen Gewehrmännern aus einer Stadt geführt werden, entweder in die Wüste zum Verhungern oder in den nächstbesten Steinbruch zur Massenerschießung – es ist unerträglich beklemmend. Es ist eine Originalquelle. So sah es, wer sehen wollte, vor etwas mehr als hundert Jahren überall in West- und Zentralarmenien, einem Gebiet, das heute als „Nordost-Anatolien“ bezeichnet wird. Wobei die Männer in aller Regel ausnahmslos ermordet wurden, während Frauen und Mädchen allzuoft entweder Skavinnen verkauft wurden oder zu sexueller Ausbeutung missbraucht wurden. Die Vision von einer rassisch „reinen“ Türkei ist in der heutigen Wirklichkeit von der Vorstellung abgelöst worden, es müsse eine religiös gesäuberte, hundertprozentig dem sunnitischen Islam anhängende Bevölkerung geben. Atatürk war offenbar nur die laizistische Ausnahme. Aber die Flamme der Hoffnung, die das uralte christliche Volk der Armenier trägt, konnte nicht einmal der türkische Völkermord löschen. Auch heute gibt es einen armenischen Staat. Die Tradition eines christlichen Staatswesen in Armenien ist dabei bekanntermaßen älter als diejenige in Rom. Nicht vergessen seien die Aramäer, die weiter südlich in Kleinasien ihre Heimat hatten, bis der türkische Völkermord auch sie traf. Ihre Tradition ist noch älter, sie reicht bis zur Urkirche des 1. Jahrhunderts zurück, ihre Liturgiesprache ist dieselbe, die Jesus sprach. Wer hören möchte, wie das Vaterunser aus dem Mund Jesu Christi geklungen hat, möge in eine aramäische Kirche gehen. Es gibt solche Kirchen auch in Deutschland, denn hunderttausende Aramäer wurden durch die türkischen Machthaber aus Kleinasien vertrieben. Samuel Zurlinden, er lebte von 1861 bis 1926, bereiste viele Jahre lang im Orient. Als liberaler Schweizer Historiker, Journalist und Schriftsteller genoss er hohes Ansehen. Zurlinden publizierte bereits 1918 eine Abhandlung über den Völkermord an den Armeniern, noch während des Ersten Weltkrieges. Es handelt sich um die erste umfassende und bedeutende Darstellung des Völkermords an den Armeniern. Zurlinden war entgeistert und schockiert: „Keinerlei Zweifel kann bestehen über den tödlichen Haß der jungtürkischen Gewalthaber gegen die Armenier und über ihren tiefinnersten Wunsch, die Gelegenheit des Weltkrieges, der die Türkei unbeaufsichtigt ließ, zu benutzen, um so oder anders mit den Armeniern aufzuräumen. Denn schon vor dem Weltkrieg bestand jene haßerfüllte, tödliche Absicht und die Begier, sie im ersten günstigen Moment zur Ausführung zu bringen." Im Schatten der Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges wurde die Bestrafung der Verantwortlichen nicht einmal versucht, bis 1921 wurde schließlich auch noch in regionalen Konflikten weitergekämpft; und nachdem im Jahre 1922 und 1923 im Zuge der Gründung der heutigen Türkei weitere schreckliche Menschheitsverbrechen zu beklagen waren, vor allem an den seit knapp 3.000 Jahren in Westanatolien ansässigen Griechen, geriet der entsetzliche Völkermord aus dem Fokus. Die Vertreibung der Pontos-Griechen aus dem mehrheitlich griechischen Smyrna, dem heutigen rein türkischen Izmir, und die völkermordartige „Säuberung“ von Adrianopel, dem heutigen Edirne, mögen beispielhaft stehen. Der rassereine Staat eines türkischen „Herrenvolkes“ wurde schon 1923 zu bauen begonnen. Und ein deutscher Diktator hat sich dieses Experiment gut angeschaut.