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> Gaucks erste hundert Tage

Das offene Wort als Markenzeichen

Die ersten 100 Tage im Amt sind vorbei und Joachim Gauck ist genau der Bundespräsident geworden, den man erwarten konnte. Anbiederung bei den Bürgern hat er nicht nötig, gerade das macht ihn so beliebt – und bietet Raum für Überraschungen.

The European

Diese Woche ist Joachim Gauck 100 Tage im Amt. Normalerweise gilt in der Politik: Ab jetzt ist die Schonzeit vorbei, es darf scharf geschossen werden. Diese Regel hat Gauck allerdings selbst außer Kraft gesetzt, indem er in den ersten Monaten seiner Amtszeit nicht etwa leise zurückhaltend aufgetreten ist, sondern von Anfang an bereit war, klare Positionen zu zeigen und dem einen oder anderen auf die Füße zu treten. Dass die meisten Kommentare dieser Tage trotzdem positiv ausfallen, hat damit zu tun, dass die meisten Hauptstadtjournalisten das durchaus als wohltuend empfinden. Aber wie steht es eigentlich mit denen, die nicht ganz unbeteiligt daran waren, dass im zweiten Anlauf kaum ein Weg mehr an Gauck vorbeiging? Wie stehen also die Bürger zu Gauck?

Zu alt, zu konservativ
Geht man nach den Umfragewerten, so scheint alles in bester Ordnung. Der Bundespräsident ist beliebt, viele Bürger meinen gar, er solle sich mehr in die Tagespolitik einordnen oder direkt in vier Jahren und acht Monaten wieder antreten. Einige derjenigen, die 2010 glühend gegen Gauck argumentierten, weil er entweder zu weit von der Realpolitik weg oder zu alt oder zu konservativ oder alles gleichermaßen sei, haben sich zu seinen größten Unterstützern gewandelt. Gleichzeitig gibt es immer wieder Wortmeldungen von Menschen, die ihn 2010 unterstützt hatten (vielleicht doch eher, um der schwarz-gelben Bundesregierung zu schaden?) und die sich jetzt von ihm abwenden. Was sagt das über Gaucks Wirkung auf die Bevölkerung? Nun, es zeigt nicht mehr und nicht weniger, als dass er genau der Bundespräsident geworden ist, den man erwarten konnte. Und vor dem Angela Merkel nicht ganz zu Unrecht ein wenig Angst hatte. Die unbequeme Art Gaucks, die er gegenüber der Berufspolitik an den Tag legt – und für die er von vielen Menschen Unterstützung erfuhr – beschränkt sich eben nicht auf den Umgang mit dieser. Nein, Gauck schreckt auch nicht davor zurück, Dinge auszusprechen, von denen er weiß, dass sie auch dem einen oder anderen Bürger, vielleicht sogar dem einen oder anderen seiner Unterstützer, überhaupt nicht in den Kram passen. Ich kann für mich sagen, dass es schon einige Äußerungen gab, die ich so nicht unterschreiben würde. Das kann man dann auch offen zugeben. Aber darum sollte man sich noch lange nicht von ihm abwenden. Ich glaube immer noch, dass Gauck die richtige Wahl war – aufgrund seiner Unabhängigkeit, aufgrund seiner Unkorrumpierbarkeit, aufgrund seiner Herzlichkeit im Umgang mit den Menschen, die ihm begegnen. Das, was er an Symbolik geliefert hat bei der Trauerfeier für die Opfer der rechten Terrorzelle, beim Besuch in den Niederlanden oder in Yad Vashem, das reicht schon aus, um dem Bundespräsidenten ein gutes Zwischenzeugnis auszustellen. Dass er es mit seinen Einlassungen zu verschiedensten Themen, von der Immigration bis zu regenerativen Energien, von Auslandseinsätzen der Bundeswehr bis zur Frage des Umgangs mit den Palästinensergebieten, geschafft hat, Debatten loszutreten, die nicht an seiner Person klebten, sondern sich schnell auf eine inhaltliche Ebene bewegten: Das ist ein Verdienst, das schon einen Schritt darüber hinausgeht.
Platz für unterschiedliche Meinungen
Nein, Gauck hat noch nicht die eine, große Rede gehalten. Aber er hat ja auch noch Zeit, denn man darf getrost davon ausgehen, dass wir endlich wieder einmal einen Bundespräsidenten erleben, der eine ganze Amtszeit durchhält. Gauck wird uns alle noch überraschen – und jeden Einzelnen von uns auch einmal ärgern. Das offene Wort, das man getrost als Markenzeichen Gaucks bezeichnen kann, ist eben auch ein scharfes Schwert, das durchaus Verletzungen herbeiführen kann. Er sollte seine Worte abwägen – und vor allem auch darauf achten, seine Kompetenzen nicht übermütig zu überschreiten. Wenn er seine Rolle allerdings weiterhin so wie bisher ausfüllt, werden wir noch viel Spaß an unserem Bundespräsidenten haben, auch wenn wir nicht immer jede seiner Einlassungen teilen können. Das ist das Gute an der Demokratie – sie bietet Platz für unterschiedliche Meinungen. Aber sie wird auch von einem Grundkonsens getragen, den Gauck wie kaum ein Zweiter symbolisiert. Keine allzu schlechten Voraussetzungen für einen Bundespräsidenten in stürmischen Zeiten.
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