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> Feministischer Perfektionismus

Das Märchen von der „guten“ Feministin

Über die eigene Magersucht zu schweigen, bedeutet nicht, die feministischen Ideale zu verraten.

The European

Was macht eine gute Feministin aus? Wahrscheinlich das, was man im Allgemeinen von Menschen erwartet, die eine bestimmte Haltung in der Öffentlichkeit vertreten, nämlich: dass sie gemäß ihrer eigenen Überzeugungen leben. Wenn ein Grüner regelmäßig mit dem Auto zum zehn Meter entfernten Supermarkt fährt, empfinden wir das als heuchlerisch. Wenn die Tochter einer konservativen Politikerin erst gegen Sex vor der Ehe wettert, um dann selbst mit 17 schwanger zu werden, auch. Aber welche Maßstäbe lassen sich bei Feministinnen anlegen?

Sehnsucht danach, sich nicht mehr verstellen zu müssen
Chloe Angyal ist sich sicher, dass sie eine „schlechte“ Feministin ist. Der Grund? Sie hat eine Essstörung. Angyal schreibt für den bekannten Blog Feministing.com und "veröffentlichte am 22. März einen Beitrag":http://feministing.com/2013/03/22/feminism-fat-feelings-forgiveness/, in dem sie ihre Krankheit öffentlich machte. Die Gründe für den Beitrag waren wahrscheinlich vielfältig – die Sehnsucht danach, ehrlich zu sein, sich nicht mehr verstellen zu müssen: bq. Darum muss ich euch sagen, dass ich in den letzten zwei Jahren nicht ganz ehrlich zu euch Lesern gewesen bin. Während ich über schädliche Schönheits-Standards bloggte, über den Bedarf nach realistischen Bildern von Frauen in den Medien, darüber, seinen Körper zu lieben, habe ich meinen eigenen gehasst. Ich habe mir selbst geschadet. Ich war am Verhungern. Der wichtigste Grund ist für Angyal allerdings ein ganz anderer: Sie möchte sich bei ihren Lesern und Leserinnen entschuldigen, denn sie hat das Gefühl, diese im Stich gelassen zu haben: bq. Der Grund, weshalb ich euch um Verzeihung/Vergebung bitten möchte, ist der, dass feministische Leader nicht in dieses Loch hinabfallen sollen. Feministische Leader, insbesondere die, die ehemalige Präsidenten der Princeton Eating Concerns Advisors [Princeton Betreuer für Ess-Sorgen] waren, Herrgott noch mal, sollten es besser wissen.
Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Ich habe viel Verständnis für Chloe Angyal und ich bewundere ihren Mut, so offen zu sein. Vor allem aber tut sie mir leid. Sie tut mir leid, weil sie offensichtlich das Gefühl hatte, mit niemandem aus ihrem feministischen Umfeld über ihre Essstörung sprechen zu können – und zwar aus dem Grund, weil sie glaubte, den Feminismus verraten zu haben. Sie fühlte sich, schreibt Angyal, wie eine „schlechte“ Feministin. Dieses Gefühl, sich falsch verhalten zu haben, ist vielleicht sogar nachvollziehbar: Einerseits die Akzeptanz des eigenen Körpers predigen, realistische weibliche Körper in den Medien fordern – und dann andererseits selbst den ganzen Tag lang nur einen Apfel essen. Aber um es ganz klar zu sagen: Chloe Angyal ist keine „schlechte“ Feministin. „Schlechte“ Feministinnen wären nur die Feministinnen, die Angyal tatsächlich aufgrund ihrer Krankheit verurteilt hätten, hätte diese sich ihnen anvertraut. Werte zu haben und nach diesen zu leben, ist schon schwierig genug. Noch schwieriger wird es, wenn diese Werte besonders idealistisch sind und öffentlich vertreten werden. Man muss sich dann besonders an seinen eigenen Ansprüchen messen lassen. Das gilt insbesondere für feministische Ideale. Für mich ist besonders tragisch, dass Chloe Angyal den Fehler bei sich sucht, sie, die eine schwere Krankheit hat. Sie hat versagt, sie ist die Heuchlerin. Es ist offensichtlich etwas falsch gelaufen im Umgang von Feministinnen miteinander, wenn es so weit kommt. Denn ich glaube nicht, dass Angyal die Einzige ist, die so fühlt – die glaubt, den feministischen Ansprüchen nicht gerecht zu werden und beim Test „Bist du eine gute Feministin?“ durchzufallen. Dabei kann es so etwas wie eine „gute“ Feministin überhaupt nicht geben. Dem Feminismus (oder besser: den Feminismen) geht es darum, dass alle Menschen Chancengleichheit verdienen, unabhängig von ihrem sozialen oder biologischen Geschlecht. Natürlich, diese Forderung ist sehr, sehr weit gefasst, sie ist der kleinste gemeinsame Nenner. Abgesehen davon, ist die feministische Bewegung so vielfältig wie andere politisch-gesellschaftliche Bewegungen. Sie umfasst verschiedene Lebensentwürfe, Lebenssituationen, Überzeugungen – und Probleme. Wie könnte bei einer solchen Vielfalt ein Kriterienkatalog aufgestellt werden mit Anforderungen, die eine Feministin auf jeden Fall und unter allen Umständen zu erfüllen hat? Nur, weil Feministinnen unsere gesellschaftlichen Verhältnisse kritischer sehen als andere, sensibler sind für zugrunde liegende Machtstrukturen und die Darstellung von Frauen in den Medien, heißt das nicht, dass sie nicht auch selbst Produkt eben dieser Verhältnisse und Strukturen sind. Sie sind nicht automatisch weniger von Gefühlen wie Hass auf den eigenen Körper betroffen. Sie können damit nicht unbedingt besser umgehen. Zu wissen, dass eine Ursache ihrer Magersucht bis zur Perfektion photogeshopte Frauenkörper in Modemagazinen sein kann, hilft der Betroffenen wahrscheinlich nicht viel.
Feministinnen sind nicht perfekter als andere Menschen
Aber: Es kann etwas getan werden. Indem Chloe Angyal einen Text über ihren ganz persönlichen Kampf mit der Magersucht geschrieben und diesen veröffentlicht hat, hat sie eines ganz deutlich (wenn vielleicht auch unbewusst) gezeigt: Das Private ist politisch, persönliche Erfahrungen haben Relevanz. Dass sie zu ihrer Krankheit steht, macht Chloe Angyal stark, viel mehr, als sie denkt. Denn Feminismus geht es auch darum, zu sich zu stehen, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Ehrlichkeit ist ein Schritt in die richtige Richtung – und sollte hoch angerechnet werden. Feministinnen sind nicht perfekter als andere Menschen. Eben weil Feministinnen wissen, dass das Private politisch ist, räumen sie persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen viel Raum ein – und sind dennoch oft selektiv, wenn es darum geht, an welchen Ereignissen und Gedanken aus ihrem Leben sie den Rest der Welt teilhaben lassen wollen. Das ist nicht heuchlerisch, sondern menschlich.
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