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> Fahrradunfall mit Folgen

Leben ohne Wert

Bei einem Fahrradunfall bricht sich unser Chefredakteur beide Ellenbogen. Er wird jetzt von der Caritas gepflegt. Gedanken eines Invaliden auf Zeit.

The European

Es ist noch einmal gut gegangen. Das war nicht abzusehen, als ich zu meinem fünf Meter weiten Flug anheben sollte, die Brille von der Nase hüpfend, die Arme nach vorne. _Survival of the fittest?_ Ohne diese richtige Vorkehrung wäre ich mit dem Kopf zuerst aufgekommen. Wie viel wert ist ein behindertes Menschenleben? Vom Hals abwärts gelähmt. Wie weiterleben mit einem entstellten Gesicht? Die Lebensplanung durchkreuzt in einem kurzen Augenblick, in dem die Sattelverschraubung ohne Vorankündigung bricht, das Gleichgewicht und die Kontrolle verloren gehen. Der Aufprall ist hart, die Arme federn die Wucht ab. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, dann setzt der Kopf mit der linken Wange zuerst auf. Im richtigen Moment das Haupt gedreht. Weich kommt sie auf dem Asphalt auf, nur eine leichte Schramme. Die wichtigste Gewissheit: Dem Kopf ist nichts passiert.

Lieber sterben als Siechtum
Das Rad landet auf meinem Rücken. Ein Moment der Sammlung: der Sturz ist zu Ende. Ich spüre meine Beine, Schultern und Handgelenke sind in Ordnung. Mein Leben zieht nicht in einem Film an mir vorbei. Meine Ellenbogen sind gestaucht. Das Einzige, was sich anders als sonst anfühlt. Etwas Blut am Knie. Wie viele Menschen verunglücken jung, sind ein Leben lang auf Hilfe angewiesen. Wollte ich so weiterleben oder nicht lieber an dieser Stelle auf der Karl-Marx-Allee sofort und für immer sterben und keinen langsamen Tod im Siechtum durchleiden? Im Krankenhaus erfahre ich, dass die Radiusköpfe in beiden Ellenbogen gebrochen sind. Zweimal Gips, eigentlich. Da ich allein lebe, lässt der Arzt den linken, weniger verletzten, Arm frei, der rechte bekommt eine Schiene. Auf beiden Seiten haben sich Elle und Speiche nicht verschoben. Wenn das so bleibt, wird keine Operation nötig sein.
Ein Sekundenbruchteil kann dich zum Invaliden machen
Ich liege nahezu unbeweglich auf der Bahre: Wie setze ich meine Brille auf und ab, wie öffne und schließe ich Türen, wie wasche ich mich, wie esse ich, wie verrichte ich den Toilettengang? Ich bin in einem Sekundenbruchteil zu einem Invaliden geworden. Ich brauche jetzt Betreuung, rund um die Uhr. Für zwei, drei Wochen – nur. Gott sei Dank. Es ist ein Privileg, die Pflege durch eine Schwester der Caritas im Alter von 34 Jahren schon erdulden zu müssen. So geht es vielen alten Menschen, Behinderten – ohne Aussicht auf Besserung. Ist das noch ein Leben? Das möchte ich nicht beantworten. Es ist eine philosophische Frage. Ist ein solches Leben noch lebenswert? Für mich kann ich sagen, dass ich jeden verstehe, der das mit Nein beantwortet. Ich kann mailen und SMS schreiben. Ich kann auf Facebook meine Empfindungen mit meinem Freundeskreis teilen. Dennoch, in mir drin bricht sich der Gedanke Bahn: Du gehörst nicht mehr dazu. Du machst Mühe. Es ist wohl seit unserer Zeit in der Savanne in uns eingraviert, ein Derivat aus einer Zeit, in der sich die Alten aussetzen ließen, um dem Stamm nicht als Kostgänger zur Last zu fallen.
Mit den Zähnen das Deckbett hochziehen
Freunde wechseln sich ab: ausziehen, Zähne putzen, ins Bett bringen, zudecken. Es gibt keine 24-Stunden-Betreuung bei der Caritas. Eine vertraute Stimme durchbricht die Stille und die öden Gedanken. Sicher, früher habe ich es nicht verstanden, warum die alte, allein lebende Tante sich über alle Gebühr gefreut hat, wenn wir Kinder sie besucht haben. Jetzt verstehe ich es: mit sich allein klarzukommen ist etwas anderes, als auf sich allein gestellt zu sein. Wenn man auf die eigenen vier Wände zurückgeworfen ist, werden andere dein Tor zur Welt. Alles kreist jetzt um die Frage: Schaffe ich es, mit meinen Zähnen die herabgerutschte Decke wieder hochzuziehen? Hat der behinderte Mensch noch Würde? Sicher. Verbrieft in der Heiligen Schrift und im Grundgesetz. Dennoch: Das ganze Schauspiel hier ist entwürdigend. Was nutzen einem die Errungenschaften der abendländischen Geistesgeschichte, wenn man sich noch nicht mal eine Fliege von der Nase verscheuchen kann? Würde erlebt der Kranke durch die Person, die ihn besucht. Wehe dem, der im Alter alleine ist! Ich habe es vor dem Sturz schon so gesehen: ich möchte weder von Maschinen am Leben erhalten werden noch ein Leben als Schwerstbehinderter in dauerhafter Abhängigkeit führen. Wenn man auf den Pfleger wartet, das Essen, die Nacht, den Morgen, wird der Geist matt, bis er schließlich erblindet.
Weder darwinistische Auslese noch göttliche Gnadenwahl
Mein Zustand wird nur für kurze Zeit anhalten. Ich habe noch einmal eine Chance erhalten. Was mache ich damit? Prioritäten in Ordnung bringen? Sicher! Gefahren anders beurteilen? Unbedingt! Wieder häufiger in die Kirche gehen? Da habe ich ernsthaft dran gedacht. Was wäre das für ein Gott, wo wie im Roulette der eine im Rollstuhl, ein anderer auf der Bahre und die dritte wieder zurück im normalen Leben endet? Ich werde das nicht verstehen. Es ist die Lotterie des Lebens: weder darwinistische Auslese noch göttliche Gnadenwahl. Es gibt keinen Grund dafür. Die Konsequenz ist entscheidend: mein Leben kann weitergehen. Was würde ich dem Leser raten: Nutze Deine Zeit, pass auf Dich auf und zieh regelmäßig die Schrauben an Deinem Fahrrad nach.
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