„Wir haben genug Nonsens gemacht“
Jean-Claude Juncker will der nächste Präsident der EU-Kommission werden, deren Regulierungswut er scharf kritisiert. Einen Plan B hat er nicht, dafür aber eine Antwort auf die Frage, ob Christdemokraten und Sozialisten wie Speck und Schweinefleisch sind.

*The European: Herr Juncker, bei unserem letzten Treffen im Mai vergangenen Jahres meinten Sie, es sei nicht der Wahltermin 2014, der Sie umtreibt, sondern die Ratlosigkeit der europäischen Politik. Die Ratlosigkeit ist geblieben und der Wahltermin naht. Treibt er Sie jetzt um?* Juncker: Nein, Wahlen lösen ja keine Probleme. Die europäische Problemmasse bleibt auch über den Wahltag hinaus dieselbe. Die Wahlen sind ein wichtiger Moment für die europäische Demokratie, aber kein endgültiger Lösungsbeitrag. *The European: Was sollten die wichtigsten Themen dieses Wahlkampfes sein?* Juncker: Die großen Parteifamilien müssen sich mit den grundsätzlichen Fragen des europäischen Projektes auseinandersetzen. Die Frage der europäischen Integration bleibt eine Frage unserer Zeit, weil das ewige Dilemma – die Frage, ob wir unsere Konflikte friedlich oder so wie früher lösen – zwar an Aktualität eingebüßt hat, aber immer noch besteht. Angesichts der Lage in der Ukraine kann niemand leugnen, dass kriegerische Auseinandersetzungen in Europa denkbar bleiben. Solche Konflikte sind zwar unvorstellbar zwischen den derzeitigen Mitgliedstaaten Europas, aber an der Peripherie gibt es genügend Zündstoff. *The European: Braucht das Friedensprojekt Europa nach so vielen konfliktfreien Jahrzehnten immer noch Erklärung?* Juncker: Das Friedensprojekt braucht eine Dauerbehandlung. Gerade die jungen Europäer können mit Krieg und Frieden wenig anfangen, weil sie sich mit dieser Fragestellung bisher nie konfrontiert sahen. Sie denken, dass Frieden in Europa eine Selbstverständlichkeit ist, aber das stimmt nicht. Man braucht also neue Leitmotive, um die jungen Menschen für Europa zu begeistern. Man darf ihnen Europa nicht nur aus der Vergangenheit heraus erklären, sondern auch von der Zukunft her. *The European: Skizzieren Sie doch bitte kurz diese Zukunft.* Juncker: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit und wer diese betrachtet, wird feststellen, dass unser Kontinent vergleichsweise klein ist. Auch mit Blick auf die Wirtschaft muss man das konstatieren. Europa wird immer weniger zum Weltbruttoinlandsprodukt beitragen und in 30 Jahren wird kein einziger Mitgliedstaat der EU zu den großen Wirtschaftsmächten zählen. Demografisch befinden wir uns ebenfalls auf dem absteigenden Ast. Das ist die Zukunft Europas. Dies ist also nicht die Zeit, sich in die kleinen Nationalstaaten zurückzuziehen. Wir brauchen einen engeren Schulterschluss, oder es wird uns als einflussreichen Faktor in Zukunft nicht mehr geben.
„Ich fühle mich nicht als Konservativer“

„Das wollen die Bürger nicht“
*The European: Spielt eine gefühlte Einigkeit der großen Parteien nicht den Radikalen in die Karten, die sich so als einzige Alternative gerieren können?* Juncker: Ich sehe diese Gefahr, bin aber nicht bereit, wie wild auf die Sozialisten zu schießen. Dort, wo es Differenzen gibt, muss man sie aufzeigen. Es kann aber nicht unser Ziel sein, den Wählern zu zeigen, dass wir zwei grundsätzlich andere Projekte verfolgen – das ist nicht der Fall. Populisten, von links und rechts, werden sicherlich nicht müde werden, zu behaupten, dass Christdemokraten und Sozialisten, wie man in Luxemburg sagt, wie Speck und Schweinefleisch sind. Man kann beide Parteifamilien sehr wohl voneinander unterscheiden, das zeigen nicht zuletzt die unterschiedlichen Bilanzen der verschiedenen Mitgliedstaaten, die von den einen oder anderen regiert werden. *The European: Bereitet Ihnen der Zuwachs der Populisten große Sorgen?* Juncker: Natürlich. Die Populisten werden im nächsten EU-Parlament stärker vertreten sein, aber wir müssen verhindern, dass die alten europäischen Ressentiments durch diese Parteien wiederbelebt werden. Diese Tendenzen müssen im Keim erstickt werden, denn fruchtbar ist der Schoß noch. Wenn wir uns nicht gegen den Vormarsch der Populisten wehren, droht ein Durchmarsch. *The European: Der Vormarsch findet im Vorfeld der Europawahlen statt. Was ist jetzt zu tun?* Juncker: Man muss sich intensiv mit den Argumenten der Populisten beschäftigen und versuchen, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, indem man zeigt, dass ihre Argumentation schlichtweg falsch ist. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Kritik der Populisten nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern dass es Mängel innerhalb der EU gibt, die man ausmerzen muss. Ich kandidiere für ein besseres Europa. *The European: Das Sie wie gestalten möchten?* Juncker: Die EU soll sich mit den großen Fragen beschäftigen und nicht mit Olivenöl-Kännchen. Das ist Unfug. So macht die EU aus kleinen Fragen große Probleme. *The European: Sie fordern mehr Subsidiarität.* Juncker: Das und eine bessere Wortwahl, was die Zukunft der Union angeht. Zu viele Politiker predigen stets die Vereinigten Staaten von Europa – aber das wollen die meisten Bürger nicht. In Sachen Regulierung würden die Briten sagen _no more nonsense_, denn wir haben genug _nonsense_ in den vergangenen Jahren gemacht.„Meine Kandidatur ist kein Schaulaufen“

„Die Kommission ist nicht die Regierung Europas“
*The European: Wir haben das Thema Populismus bereits angerissen. Wie haben Sie die Debatte um das Referendum in der Schweiz erlebt?* Juncker: Der Ausgang des Referendums war nicht komplett überraschend und hat trotzdem für Staunen gesorgt. Ich kenne die Schweiz und ihre regionalen Befindlichkeiten gut und weiß, dass es dort eine ausgeprägte Euroskepsis gibt. Sie muss aber erkennen, dass sie nicht nur von der Freizügigkeit der europäischen Kapitalflüsse und bilateralen Übereinkünften mit der EU profitieren kann, ohne die Regeln des europäischen Binnenmarktes zu akzeptieren und dazu gehört diese Freiheit der Arbeitnehmer eindeutig. Außerdem ist mir völlig unklar, wie man diese Haltung vertreten kann. Die Schweiz kann nicht ohne ausländische Arbeitskräfte überleben – Luxemburg übrigens auch nicht. *The European: Die Schweizer kritisieren auch öfters den Mangel an Demokratie der EU. Sind Sie zufrieden mit dem Grad an Demokratie?* Juncker: Nein, ich bin weder auf europäischer Ebene noch auf irgendeiner nationalen Ebene vollumfänglich zufrieden. Demokratie ist immer ausbau- und verbesserungsfähig. Die Verträge von Maastricht oder Lissabon haben aber für sehr wichtige Demokratieschübe auf europäischer Ebene gesorgt. Das Europaparlament wurde gestärkt, doch es täte der europäischen Demokratie gut, wenn es mehr Beteiligung der Bürger durch die Wahlen gäbe. Die Wahlbeteiligung an den Europawahlen war bisher immer ungenügend, wenn man bedenkt, über welche Rechte das Parlament verfügt. *The European: Denken Sie, dass man auch darüber nachdenken sollte, die Kommissare – die ja als Minister Europas fungieren – auch demokratisch wählen zu lassen?* Juncker: Die Kommission ist nicht die Regierung Europas, das wünscht sie sich vielleicht, widerspricht aber der Wirklichkeit – das nur am Rande. Ich habe das, was Sie vorschlagen, bereits öfters vorgeschlagen, stieß aber immer auf heftigen Widerspruch, vor allem von den größeren Staaten Europas. Ein französischer Präsident etwa wird niemals akzeptieren, dass es noch einen zweiten gewählten Repräsentanten des Volkes gibt. *The European: Und eine deutsche Bundeskanzlerin?* Juncker: Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen, weil mir die Franzosen immer klargemacht haben, dass es keinen Wert habe, den Antrag überhaupt in eine andere Sprache zu übersetzen. *The European: Wieso ist das Thema in Frankreich tabu?* Juncker: Der Präsident ist der Gewählte des Volkes. Und dann soll es noch einen zweiten neben ihm geben, der in Brüssel sitzt und dieselbe Legitimität besitzt?„Man bräuchte eine Sperrklausel“
