Europa braucht ein Narrativ
Europa braucht eine gemeinsame Erzählung. Europa braucht ein Narrativ. Ja, das ist wohl so. Doch was, wenn es dieses Narrativ bereits gibt? Und wir haben es noch nicht gemerkt? Ein Blick auf unsere Nachbarn in Europa macht das ziemlich klar, meint Andreas Moring.

Was im vergangenen deutschen Wahlkampf bestimmend war, zieht sich auch durch alle Wahlkämpfe in Europa. Einwanderung und Grenzsicherung, Kontrolle und Kontrollverlust, Leitkultur und europäisches, abendländisches Bewusstsein. Das sind die Schlagworte der europäischen Wahlkämpfe und gesellschaftlichen Diskussionen, das sind die Leitmotive für die Geschichten, die von Politik und Wählern erzählt werden und gehört werden wollen. Es braucht nicht viel Prophetengabe um vorauszusagen, dass das Thema natürlich auch den kommenden Europawahlkampf im kommenden Jahr bestimmen wird. Dass das Thema in Ungarn gezogen und Victor Orban im Amt gehalten hat, war zu erwarten. In Österreich war das vielleicht nicht so klar, nachdem mit Alexander van der Bellen ein (Ex-)Grüner das Präsidentenamt errungen hatte. Der Kurs von Kurz ging aber auf. Mit einem betont identitären Kurs und rhetorisch harter Linie bei Grenzsicherung und Einwanderung wurde eine Koalition aus ÖVP und FPÖ in die Regierung gewählt. Im Nachbarland Tschechien konnte mit Andrej Babis ebenfalls ein Kandidat mit der Erzählung der notwendigen Abschottung Europas vor der „Masseneinwanderung“ die Mehrheit der Wähler für sich überzeugen. Doch nicht nur in den sogenannten Visegrad Staaten funktioniert dieses Narrativ. Auch im Herz- und Kernland der Europäischen Union, in Italien, ist die Regierung aus 5 Stelle und Lega im Wahlkampf und in ihrer bisherigen Politik betont einwanderungskritisch. Gerade dieser Punkt wird mit der Sperre von italienischen Häfen für Flüchtlingsboote und anderen, eher symbolischen Aktionen, wie der Roma-Zählung nun auch von der Regierung deutlich exekutiert. Der andere Punkt, nämlich die Eurokritik und die Anti-EU-Establishment-Rhetorik, war dagegen interessanterweise ziemlich schnell nach Regierungsantritt vom Tisch - offensichtlich ist das kein langfristig sinnvolles Narrativ. Und auch im Norden Europas sind die Ohren für die genannte europäische Erzählung offen. Die Schweden Demokraten um Jimmy Akeson sind zum bestimmenden Taktgeber des Wahlkampfs geworden und könnten im September einen in ihrer bisherigen Geschichte großen Sieg einfahren. Auch hier vertritt Akeson keine übermäßig radikalen Thesen, betont sogar, dass Schweden ein Einwanderungsland ist und auch bleiben soll. Akesons Geschichte setzt, wie in den anderen Ländern auch, eher auf die eigene Kultur und Identität und die Anpassung aller daran, als dass es um Hetze gegen „die Ausländer“ ginge. Das verfängt. In Dänemark ist zwar kein Wahlkampf, aber die dortige Regierung hat trotzdem ein groß angelegtes Programm gegen „Ghettos“ in den Vororten dänischer Städte gestartet. Ein Problem, das ebenfalls nicht nur dort, sondern in praktisch allen europäischen Metropolen bekannt und dringend ist. So soll der Anteil von Bewohnern mit ausländischer Herkunft begrenzt werden, um noch einen klaren „dänischen Charakter“ sicherzustellen. Kopftücher und Verschleierung sollen weitgehend verboten werden und die Innenministerin riet den muslimischen Mitbürgern im Ramadan doch besser Urlaub zu nehmen. Schließlich seien die Sommertage im Norden sehr lang und wer so lange nichts esse und trinke, könne doch gar nicht mehr zurechnungsfähig arbeiten. Ganz ähnlich verfahren auch der französische Premier und der Innenminister - in Deutschland neben Macron praktisch gar nicht wahrgenommen - und haben vergleichbare Initiativen wie in Dänemark auf den Weg gebracht. Der sogenannte „Asylstreit“ zur Zeit in Deutschland ist gleichsam unser (partei-)politischer Ausdruck dieser Debatte. Ein Teil der Parteienlandschaft bekennt sich offensiv zu dem beschriebenen Narrativ und will nach innen und außen mehr Härte und Konsequenz zeigen. Dazu gehören CSU, FDP, AfD und Teile der CDU. Der andere Teil will eben dieses Narrativ bekämpfen und wiederholt ihre bereits seit den 1990er Jahren vertretenen Argumente und Rhetorik gebetsmühlenartig immer wieder und wieder. Dazu gehören vor allem die Führung der CDU, die SPD und die Linke. Das Dumme dabei: Keines der Lager hat eine offizielle Regierungsmehrheit. Ganz im Gegenteil verteilen sich beide Seiten auf Regierung und Opposition. Das ist in Italien beispielsweise anders. Mit den bekannten radikalen Änderungen im Grenzregime und der Flüchtlingspolitik. Dass das europäische Narrativ wirkt, zeigt sich daran, dass sich länderübergreifend Koalitionen bilden. Und genau das ist ja auch der supranationale Sinn der Europäischen Union. In der Geschichte hat es aber auch immer einen Treiber, eine Erzählung zur Begründung dieser Supranationalität gebraucht. Zunächst war es der Kalte Krieg, dann in den 1990ern und 2000ern die Chancen der Globalisierung. Seit Eurokrise und „Flüchtlingskatastrophe“ ist dieses Narrativ entzaubert, gesucht wird ein neues. Es scheint sich gerade jetzt zu finden. Die Regierungschefs von unter anderem Österreich, Italien und Frankreich und auch EU Kommissionspräsident Juncker gingen in den vergangenen Tagen im Berliner Kanzleramt aus und ein. Vor allem die Idee, außerhalb der EU Auffanglager einzurichten, bekommt immer mehr Anhänger und könnte zu einer Art neuem „europäischen Projekt“ werden. Ratspräsident Donau Tust hat nicht zufällig genau jetzt einen Vorschlag eben dazu in Umlauf gebracht. Mit der Begründung, das Geld sei so gerade für die Menschen am besten und effizientesten eingesetzt, den Menschen würde so am meisten geholfen. Schließlich gibt es ja europäische, humanistische Werte. Gleichzeitig passt es aber auch so schön zur Geschichte eines Europa, das „seine Leute“ schützen kann, die Kontrolle zurückgewinnt, sich international behauptet, die eigene Identität bewahrt - und dabei eben auch noch ein gutes Gewissen haben kann. Bemerkenswert dabei ist, dass diese Erzählung nicht die Erzählung der radikalen Ränder ist. Die größten Europa-Enthusiasten formulieren genau das. Emmanuel Macrons wichtigste Slogans sind „L`Europe de la culture“ und „L´Europe qui protége“. Ein Europa, das sich auf seine eigene kulturelle Identität besinnt und ein Europa, das schützt. Dass wir am Beginn einer neuen Epoche eines neuen europäischen Narrativs stehen, ist ziemlich offensichtlich. Die Frage ist nun: Wer nimmt dieses Narrativ auf? Wer erzählt die Geschichte weiter und bestimmt damit auch Europas Geschichte? Wenn es schon so deutliche Gemeinsamkeiten in den europäischen Ländern gibt, dann sollten diese auch für Gemeinschaft genutzt werden. Das spricht gerade für die Europa- und Integrationsbefürworter und Föderalisten als Träger und Protangonisten dieses Narrativs. Sie sollten es sich von den Nationalisten nicht wegnehmen lassen. Aus Verantwortung für Europa. Mit allen notwendigen politischen Konsequenzen, nach innen wie nach außen.