Europas letzte Chance heißt Föderalismus
Wenige Tage nach der Ansprache der britischen Premierministerin Theresa May und dem Auftritt Emmanuel Macrons zur Zukunft Europas, legt der Chefunterhändler der Brexit-Verhandlungen, Guy Verhofstadt, in London seine Vision von einer liberalen EU vor.

Eine gewisse Anspannung war im Old Theatre der London School of Economics (LSE) zu spüren, als Guy Verhofstadt ans Pult trat. Denn nichts Geringeres als die Zukunft Europas, Großbritanniens und vor allem die Zukunft der brexit-kritischen Metropole London hängt in gewisser Weise an der Verhandlungsstärke des EU-Parlamentariers. In der Hauptstadt hatten vergangenes Jahr fast 60 Prozent „Remain“ gewählt — auch deshalb fand sich der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan auf dem Uni-Campus ein. Wie seine Stadt ist auch die LSE nicht nur erfolgreich — ein Viertel aller Wirtschaftsnobelpreisträger stehen in Verbindung mit ihr — sondern auch sehr divers: Knapp 70 Prozent der Studenten kommen aus dem Ausland, auch rund 40 Prozent der Mitarbeiter stammen aus dem kontinentalen Teil der EU. Auch wenn Verhofstadt zunächst scherzte, dass es doch merkwürdig sei, dass Theresa May ihre Grundsatzrede auf dem Kontinent und er nun in England halte, hatte er sich einen symbolisch passenden Ort herausgesucht. In seiner Rede verhielt er sich selbstbewusst und konstruktiv — so wie man sich auch die Europäische Union häufiger wünscht. So merkte er deutlich an, was er von dem Votum der Briten hält: „Der Brexit ist eine reine Zeit- und Energieverschwendung“, man solle nun aber das beste daraus machen und für beide Seiten ein zufrieden stellendes Ergebnis erzielen. Trotzdem bemängelte er das Zustandekommen des Austrittsvotums: Er halte es mit John Stuart Mill, der erklärte: „Die Demokratie darf keine Diktatur der Mehrheit sein.“ Damit deutete Verhofstadt an, dass er bei solch essentiellen Entscheidungen eher eine Zweidrittelmehrheit bevorzuge. Nun habe man dieses Ergebnis aber vorliegen und müsse folglich „ein guter Demokrat sein und versuchen das beste für beide Seiten — und vor allem für die Bürger — herauszuholen.“