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> Es gibt nicht die Muslime als einheitliche Gruppe

Weniger türkische Musliminnen in Deutschland tragen Kopftuch

Der Anteil der Musliminnen in Deutschland, die ein Kopftuch tragen, ist in 2016 von 41 Prozent der Eingewanderten aus der Türkei auf nur noch 21 Prozent der in Deutschland geborenen Generation abgesackt.

The European

Weltweit leben etwa 1,8 Milliarden Muslime, in Deutschland etwas über 4 Millionen. Damit ist der Islam nach dem Christentum die zweitgrößte Religion der Erde und könnte im 21. Jahrhundert sogar zur zahlenmäßig größten Weltreligion aufsteigen. Bestimmt habt ihr solche und ähnliche Zahlenangaben schon verschiedentlich gelesen und darauf wahlweise mit Sorge, Freude oder neutralem Interesse reagiert. ► Das Problem ist nur: Diese Zahlen sind sehr, sehr zweifelhaft. Denn der Islam befindet sich derzeit in einer tiefen Krise. Aktuell wenden sich viele Menschen von der Religion ab und Millionen von ehemaligen Muslimen werden trotzdem weiterhin als "Muslime" gezählt.

Juden und Christen können offiziell austreten
Schauen wir beispielsweise nach Deutschland, so stellen wir fest, dass in den Statistiken als Christen und Juden jeweils jene gezählt werden, die einer Kirche oder jüdischen Religionsgemeinschaft angehören. Wenn sie austreten, zählen sie nicht mehr als christlich oder jüdisch - auch wenn sie sich selbst vielleicht noch als Christen verstehen oder nach jüdischem Religionsrecht als Kinder einer jüdischen Mutter auch weiterhin als Juden gelten. In unseren offiziellen Statistiken erfassen wir jedoch offiziell - und wie ich finde: zu Recht - nur jene, die einer religiösen Gemeinde angehören und damit übrigens meistens auch einen Mitgliedsbeitrag, eine Kirchen- oder Kultussteuer entrichten. Wenn Menschen also austreten oder ihre Kinder erst gar nicht mehr anmelden, wird ein Nachlassen religiöser Bindungen sichtbar und auch seit Jahrzehnten gemessen und vermeldet.
Bei Muslimen legen wir andere Maßstäbe an
► Würden wir das gleiche Kriterium auch auf Muslime anwenden, hätten wir plötzlich nicht mehr über vier Millionen, sondern nur noch unter einer Million Muslime in Deutschland. Denn nur etwa 20 Prozent der "Muslime" in Deutschland gehören einem Moscheeverband an. Das kümmert uns jedoch - bisher - nicht, wir zählen einfach alle Menschen als Muslime, die von muslimischen Eltern abstammen. Und wo sollten sie sich auch abmelden? Es gibt nicht einmal eine Adresse, bei der sie ihren Austritt erklären könnten.
Die Todesstrafe für "Abtrünnige"
► Tatsächlich sieht die traditionelle Auslegung des Islam eine Abkehr von der Religion nicht vor; wer in den Islam hineingeboren wurde oder eingetreten ist, dürfe bei Todesstrafe nicht mehr gehen. ► Und diese Drohung gegenüber "Abgefallenen" ist auch heute durchaus noch aktuell. Als das Pew-Institut 2013 eine weltweite Befragung unter Muslimen durchführte, sprachen sich 86 Prozent der Befragten in Ägypten für die Todesstrafe an "Abtrünnigen" aus, 79 Prozent in Afghanistan, 66 Prozent in den Palästinensergebieten, 42 Prozent im Irak, 18 Prozent in Indonesien, 17 in der Türkei und auch noch 8 Prozent in Albanien. Und selbst ehemalige Muslime, die beispielsweise in Europa leben und also keine Gewalt mehr befürchten müssen, haben oft international weit verzweigte Familien.
Millionen Muslime wenden sich in aller Stille ab
Die meisten ehemaligen Muslime hängen daher ihre innere Abkehr vom Islam einfach nicht an die große Glocke - sie sprechen vielleicht unter engsten Vertrauten darüber und halten sich im Übrigen von den Moscheegemeinden und den Frommen fern. Ich nenne diese millionenfache Abkehr vom Islam ohne offiziellen Austritt den "stillen Rückzug". Haben wir Hinweise darauf, wie viele Menschen das betreffen könnte? Oh ja, und die Unterschiede sind erheblich!
Viele Türken und Iraner in Deutschland bekennen sich nicht zum Islam
► So bezeichneten sich schon bei der DIK-Studie 2009 nur noch 81,4 Prozent der in Deutschland lebenden Türken als Muslime - und unter den iranischen Staatsbürgern gaben gar 38 Prozent (!) an, "keine Religion" zu haben, weitere zehn Prozent bekannten sich als Christen. ► Selbst unter jenen, die noch angaben, Muslime zu sein, bekannten über 20 Prozent, nie zu beten und weitere 15,3 Prozent sagten, sie täten dies nur ein paar Mal im Jahr. Nur noch jeder Dritte "Muslim" in Deutschland gab an, täglich zu beten. Wir sehen auf die Frommen und die lauten Radikalen, doch wir übersehen den "stillen Rückzug".
Viele Muslime haben dem Islam wegen des Terrors den Rücken gekehrt
Und all dies war, noch bevor die Terroranschläge, die jüngste Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten in Syrien, im Irak und im Jemen und die Flüchtlingsströme einsetzten. Inzwischen melden christliche Kirchen und Bahai mehr und mehr ex-muslimische Übertrittswillige und in Erbil, der Hauptstadt von Kurdistan-Irak, sind Tausende Ex-Muslime zum Zoroastrismus ihrer Vorfahren zurückgekehrt und haben unter anderem wieder einen Tempel ihres vor-islamischen und in der Region eigentlich schon verdrängten Glaubens eröffnet. In Indonesien haben sich sogar mehrere Zehntausend Menschen der neu gegründeten Religion Gafatar angeschlossen, die derzeit mit staatlicher Gewalt unterdrückt wird. ► Auch in Ländern wie der Türkei und dem Iran habe ich mit unzähligen Menschen gesprochen, die angesichts der mörderischen Gewalt im Namen des Islams ihren Glauben erschüttert oder verloren haben.
Weniger türkische Musliminnen in Deutschland tragen Kopftuch
So ist der Anteil der Musliminnen in Deutschland, die ein Kopftuch tragen, in 2016 von 41 Prozent der Eingewanderten aus der Türkei auf nur noch 21 Prozent der in Deutschland geborenen Generation abgesackt. Wir nehmen dies nur nicht wahr, weil wir Musliminnen (und Ex-Musliminnen) ohne Kopftuch sehr viel weniger beachten als zum Beispiel neu Angekommene mit Kopfbedeckung.
Wie kam die Krise in den Islam?
Aber wie konnte die einstige Hochkultur, die doch Europa so lange auch wissenschaftlich und kulturell überlegen war, in eine so tiefe Krise geraten? ► Im meinem Buch vertrete ich die These, dass das Verbot des Buchdrucks für arabische Lettern ab 1485 durch Sultan Bayazid II. das Osmanische Reich zwar stabil erhielt, aber auch erstarren ließ. Europa ging durch die Reformation, die Konfessionskriege und schließlich die Aufklärung und entwickelte sich technologisch und damit auch militärisch weiter. Um 1800 konnte bereits die Hälfte der Deutschen lesen, Goethe, Schiller, Kant und die Gebrüder Humboldt prägten die voranstürmende Kultur. Im Osmanischen Reich aber war Lesen und Schreiben das Privileg einer kleinen Minderheit von unter fünf Prozent. Und als Napoleon eine Druckerpresse ins fast mühelos eroberte Kairo mitbrachte, wurde diese von einem wütenden Mob zerstört, der die Maschine für eine Verschwörung des Westens hielt.
Verbreiteter Verschwörungsglauben
Denn tatsächlich erklärten sich sehr viele Muslime den plötzlichen Niedergang ihrer eigenen Zivilisation mit finsteren Verschwörungen - und übernahmen die entsprechenden Verschwörungsmythen aus dem Westen. Oppositionelle, kritische und ehemalige Muslime stehen daher ständig in der Gefahr, als Mitverschwörer von Freimaurern, Illuminaten, US-amerikanischen Geheimdiensten und den "Weisen von Zion" beschuldigt zu werden. Nicht wenige Muslime bekennen zwar noch den Glauben an einen guten Gott, lehren aber eigentlich, dass böse und verschwörerische Mächte diese Welt beherrschen. Sie sind eher Dualisten als Monotheisten - und damit wird natürlich nichts besser. Im Gegenteil: Probleme werden durch das falsche Beschuldigen fremder Mächte nicht gelöst, und wer politisch Andersdenkende als Verschwörer beschimpft oder gar attackiert, ist zur Demokratie unfähig.
Der Fluch des Öls
► Im 20. Jahrhundert trat zu alledem auch noch der verhängnisvolle Einfluss des Öls. Wo die Einnahmen eines Staates nicht aus den Steuern der Bürgerinnen und Bürger, sondern aus ausländischen Quellen kommen, entsteht keine Demokratie. Denn kleine Eliten werden sich die Einkommensquellen (wie Öl oder Gas) unter den Nagel reißen und den Rest des Landes in Abhängigkeit halten oder unterdrücken. So finanzieren wir selbst die Regime etwa in Saudi-Arabien und Iran, in Katar, Kuwait und Irak ebenso wie die Milizen in Lybien und Syrien. Aber auch in nichtislamischen Ländern wie Russland, Venezuela und Angola lässt sich dieser verheerende "Fluch des Öls" besichtigen. Wenn ihr in eurem ganzen Leben nur eine einzige, politikwissenschaftliche Theorie kennenlernen wollt, dann empfehle ich die "Rentierstaatstheorie" - diese hat nichts mit Huftieren zu tun und erklärt die Zusammenhänge eindrucksvoll.
Kann man das Ungewohnte diskutieren?
Mir ist natürlich bewusst, dass solche Beobachtungen vielen Wahrnehmungen auf allen Seiten widersprechen. ► Neben sehr viel positivem Interesse erhalte ich daher auch jede Menge Beschimpfungen von Leuten, die meist nur Überschriften lesen. Dazu gehören Rechtspopulisten, die mir vorwerfen, den Islam zu "verharmlosen" und die "Islamisierung" zu leugnen. ► Umgekehrt empören sich manche Muslime, ich würde den Islam "schlechtmachen", dieser sei "ewig" und könne also - im Gegensatz etwa zu Christentum oder Hinduismus - gar nicht in eine Krise geraten. ► Und gestern erläuterten mir zwei Deutsch-Iranerinnen, dass ich noch untertrieben hätte - in Wirklichkeit sei der Verfall des islamischen Glaubens insbesondere im Iran schon so weit fortgeschritten, dass die Fassade immer mehr bröckele und nur noch durch Gewalt aufrecht erhalten werde.
Es gibt eben nicht "die Muslime" als einheitliche Gruppe
Nach meinen Beobachtungen sind Muslime und Ex-Muslime ebenso vielfältig wie Christen, Juden und Humanisten auch - und es gibt zwischen den islamischen Radikalen einerseits und dem "stillen Rückzug" andererseits auch noch immer sehr viele Musliminnen und Muslime, die ihre Religion zugleich öffnen und erneuern wollen. Und auch wenn sich die Türkei gerade demokratisch, kulturell und wissenschaftlich zurückentwickelt, so sehe ich doch starke Reformströmungen beispielsweise in Tunesien und Indonesien. ► Deswegen lehne ich die von einer Künstlergruppe in Düsseldorf vorgestellte These, der Islam sei bereits "tot", noch ab. ► Aber eines halte ich für sicher: Einer Krise kann man erst dann erfolgreich begegnen, wenn man sich eingesteht, dass sie da ist. Es ist höchste Zeit, dass wir alle realistischer und ehrlicher auf den Islam blicken und nicht nur unsere Statistiken, sondern auch unsere Wahrnehmungen überprüfen. Quelle: "Huffpost":http://www.huffingtonpost.de/michael-blume/islam-krise_b_17914308.html?utm_hp_ref=germany
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