Erst die Juden, dann die Christen
Der türkische Präsident lobt den Hamas-Terror und hetzt gegen den Westen. Israel sei nur eine „Schachfigur“. Er beschwört schon einen „Kampf zwischen Halbmond und Kreuz“. Mit martialischen Worten positioniert er sich als Heerführer des muslimischen Glaubens. Greift die zweitgrößte Armee der Nato auf Seiten der Hamas in den Krieg gegen Israel ein?Von Wolfram Weimer

Es ist eine gefühlte Kriegserklärung. Der türkische Präsident nutzt ausgerechnet die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der türkischen Republik um ein islamistisches Manifest zu proklamieren. Westlichen Diplomaten bleibt am Wochenende der Atem stocken, denn Erdogans Aufruf zum Glaubenskrieg könnte nicht nur den Konflikt in Israel dramatisch ausweiten. Es droht auch eine historische Zäsur für die Beziehung der Türkei zum Westen. Wie ein Antagonist zum westlich orientierten Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der die moderne, laizistische, demokratische Türkei schuf, in der die Religion aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt wurde, stilisiert sich Erdogan als moderner Glaubenskrieger, der an der Rückkehr des neo-osmanischen Reiches arbeitet.
Seine Worte sind an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Erdogan erklärt Israel zum "Kriegsverbrecher". Er verteidigt und heroisiert die radikalislamischen Terrorgruppe Hamas als "Gruppe von Befreiern", die ihr Land verteidige. Kein Wort davon, dass die Hamas am 7. Oktober einen Großangriff auf Israel gestartet und dabei etwa 1.400 Menschen mit hoher Brutalität hingeschlachtet und mehr als 200 Menschen als Geiseln verschleppt hat.
Doch der türkische Präsident geht noch drei bemerkenswerte Schritte weiter. Zum einen beschuldigt er „den Westen“ als Drahtzieher hinter dem „Massaker in Gaza“. Der Westen benutze Israel als „Schachfigur“ seiner Interessen, wolle den Nahen Osten ins Chaos stürzen und halte die Türkei bewußt klein, sei sogar für die türkische Wirtschaftskrise verantwortlich. Zum anderen kündigt er an, die Türkei werde den muslimischen Glaubensbrüdern beistehen. "Wir werden erfolgreich und siegreich bleiben. Keine imperialistische Macht kann dies verhindern", sagte er. Erdogan droht damit faktisch mit einem militärischen Einsatz gegen Israel. Mit einer Truppenstärke von rund 450.000 aktiven Soldaten und 380.000 Reservisten stellt die Türkei nach den USA die zweitmächtigste Streitmacht der NATO dar. Ein Marschbefehl auf Israel würde einen militärischen Flächenbrand im Nahen Osten auslösen. Doch Erdogan sieht sich als Erben des Osmanischen Reiches und spricht das Szenario offen an: "Manche Leute mögen Gaza als einen fernen Ort betrachten, der mit uns nichts zu tun hat", sagte er am Samstag. "Aber vor hundert Jahren war für diese Nation Gaza nicht anders als Adana." Tatsächlich gehörte Gaza einmal zum Osmanischen Reich.
Zum dritten droht Erdogan sogar mit einem noch größeren Krieg. Er warnt, der Westen solle sich in acht nehmen, weiter in den Konflikt einzugreifen. "Will der Westen wieder einen Kampf zwischen Halbmond und Kreuz?", fragte er in seiner Rede am Samstag. "Wenn Sie eine solche Anstrengung unternehmen, seien Sie sich darüber im Klaren, dass diese Nation nicht tot ist.“ Wie Millionen Muslime fühlt sich Erdogan als Teil eines globalen Kulturkampfs, er will vom neuen Massenbewusstsein der Muslime profitieren und positioniert sich als Heerführer seines Glaubens. Erstmals bekennt er auch offen, dass die Außenpolitik der Türkei diesem strategischen Ziel dient, und gesteht: „So wie wir in Libyen und Karabach die gleiche Entschlossenheit an den Tag gelegt haben, wissen Sie, dass wir auch im Nahen Osten standhaft sind.“ Die Militäreinsätze Ankaras in Syrien, Somalia, Libyen und Aserbaidschan folgen also einem neo-osmanischen Plan der glaubensbewegten Expansion. Mehr als 60.000 türkische Soldaten sind bereits in Auslandseinsätzen aktiv, jüngst in Aserbaidschan, wo man an der ethnischen Säuberung und Vertreibung der armenischen Christen aus Berg-Karabach beteiligt war.
Erdogan hatte schon in Syrien und Ägypten keine Berührungsängste gegenüber islamistischen Extremisten. Nun trägt er in der Öffentlichkeit einen Schal, auf dem die türkische und die palästinensische Fahne zu sehen ist. Die Botschaft: Wir stehen auf Seiten der Hamas.
Für Erdogan ist der demonstrative Kulturkampf gegen Juden und Christen ein größer werdender Teil seiner politischen Agenda. So hatte er die Hagia Sophia bereits demonstrativ in eine Moschee verwandelt, um den Westen gezielt zu erniedrigen. Die Kirche ist ein kulturelles Monument der Christenheit, vor 1123 Jahren wichtigstes Gotteshaus der Orthodoxen, 89 Kaiser wurden hier gekrönt und 125 Patriarchen prägten die Geschichte des christlichen Byzanz. Von Athen bis Moskau war daher das Entsetzen gewaltig. Doch Erdogan feixt von einer islamischen „Auferstehung“. Zum Wahlkampfabschluss seiner Kampagne im Mai besuchte er medienwirksam die Hagia Sophia, um dort sein letztes Abendgebet vor den Wahlen zu verrichten und den Türken zu zeigen, was sein religions-aggressives Programm bedeutet. Seine Propagandazeitungen lobten die Provokation als "Vorboten zur Befreiung der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem, die Muslime verlassen die Phase des Interregnums". Man befreie sich aus der „Tyrannei der Kreuzfahrer“.
Mitte November nun will Erdogan Deutschland besuchen und Bundeskanzler Olaf Scholz treffen. Nach den Drohungen aus Ankara ist das einigermaßen heikel. Der Bundesvorsitzende der Jungen Union Deutschlands, Johannes Winkel (CDU), fordert den Bundeskanzler bereits auf, die Einladung an den türkischen Staatschef zurückzuziehen: „Wenn Deutschland noch etwas Selbstachtung hat, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Erdogan auszuladen. Die viel beschworene „Staatsräson“ verkommt sonst zum Kalenderspruch.“ Doch Scholz wird ihm reden müssen, denn die Migrationskrise erschüttert Deutschland und die Türkei ist ein Schlüsselland dabei. Alleine im Oktober stellten 9000 Menschen aus der Türkei einen Asylantrag in Deutschland. Die Türken haben damit die Syrer als größte Antragstellergruppe überholt. Zugleich erpresst Erdogan Europa seit Jahren mit der „Migrationswaffe“, wie Brüsseler Diplomaten warnen. Ist die EU nicht gefügig, öffnet er die Grenzen und schickt weitere hunderttausende Flüchtlinge nach Europa. Die Rolle des Türstehers der EU lässt er sich teuer bezahlen. Die EU hat bereits 10 Milliarden Euro für die Unterstützung von Flüchtlingen und Aufnahmegemeinschaften in der Türkei bereitgestellt. Nach neuen Daten der EU-Kommission wurden mehr als 2,6 Millionen Flüchtlinge in der Türkei mit monatlichen Bargeldhilfen aus Europa über ein Debitkartensystem direkt unterstützt. Doch über diese humanitäre Hilfe redet der Glaubenskrieger Erdogans öffentlich nicht.