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> Embryo und Freiheit

Kein Mensch ist eine Insel

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Das Urteil zur Präimplantationsdiagnostik ist kein Sieg der Freiheit und kein Zeichen von Liberalität. Es beschädigt vielmehr die Grundlage aller republikanischen Freiheit, die Gattungssolidarität.

The European

In Zeiten, da die Regierung wankt und Positionen rascher wechseln, als Wimpern klimpern können, ist es gut, dass es Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gibt. Die Bundesjustizministerin hält Kurs. Sie fühlt sich zuverlässig wohl in der Rolle der Ahnungslosen mit besten Absichten. Dieses Schauspiel war nun wieder zu bestaunen. Der Bundesgerichtshof hat die Präimplantationsdiagnostik, die keine Diagnostik ist, sondern eine verwerfende Auslese genetisch suboptimaler Embryonen, gutgeheißen. Ein solches Prozedere nach dem Aschenputtel-Prinzip – die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen – widerstreite nicht dem Embryonenschutzgesetz. Schließlich diene der selektierende Blick einem hehren Ziel. Er verringere die Wahrscheinlichkeit, dass der entstehende Mensch an dieser oder jener Behinderung oder Krankheit leiden müsse.

Die Justizministerin improvisiert frei
Leutheusser-Schnarrenberger kommentierte: Das sei ein gutes Urteil, da es Rechtssicherheit schaffe. Es handele sich um eine schwierige individuelle Gewissensentscheidung. Die PID dürfe nicht verboten werden, weil ein Verbot der schwierigen ethischen Konfliktlage der Paare nicht gerecht werde. Alle drei Annahmen sind falsch. Alle drei Aussagen zeigen, dass Leutheusser-Schnarrenberger frei improvisiert über den tragenden Grund der Rechtsordnung, die zu wahren ihre Aufgabe sein müsste. Juristen wünschen sich Rechtssicherheit. Sie wünschen sich Gesetze sonder Zahl, damit da keine Zufälligkeit mehr ist im Zeitenlauf, für die es nicht ein passendes juristisches Stopp- oder Vorfahrtsschild gibt. Ob es die Höhe ist der Hecken in Nachbarsgarten, der Abstand zwischen Gullydeckel und Fahrbahnrand, die Reihenfolge der Inhaltsstoffe bei Tütensuppen oder Kosmetika: Rechtssicherheit lautet das Mantra. Es besingt aber eine Chimäre. Nur auf dem Friedhof gibt es rechtssichere Luft. Der Tod und nur er schafft wirkliche Rechtssicherheit. Das Leben verläuft in lebendig widersprüchlichen Bahnen. Die Frage, ob es gut sei, ist keine Frage nach der Rechtssicherheit. Die absolute Barbarei kann in gediegener Rechtssicherheit organisiert werden. Je totaler ein System sich gebärdet, desto energischer kann es Rechtssicherheit schaffen. Man schlage nach bei Kim Il-sung. Eine Justizministerin sollte sich nicht rein formal über Rechtssicherheit freuen. Sie sollte fragen, ob Urteile und Gesetze dem Geist und den Buchstaben der Verfassung entsprechen. Zweitens nämlich handelt es sich beim BGH-Urteil um keine angemessene Reaktion auf eine schwierige individuelle Gewissensentscheidung. Es handelt sich um ein Urteil, das nicht die Freiheitsrechte des Individuums erweitert, sondern die Freiheitsspielräume in der Gesellschaft einengt. Basis unserer liberalen Demokratie ist die Gattungssolidarität. Kein Mensch darf sich dazu aufschwingen, einem anderen Menschen den Tod zuzuteilen. Immer haben irrtumsanfällige Menschen mit ebensolchen zu tun, keine einzige Tat kann die Menschenwürde auslöschen. Darum enden Liberalität und Freiheit und Republik genau dort, wo der Mensch einen Angehörigen derselben Gattung vernichten darf, ohne dass sein eigenes Leben auf dem Spiel steht: Sei es im Lager, sei es im Krieg, sei es in der Petrischale.
Der Mensch ist keine Monade
Drittens muss die vorgeburtliche Ausmerzung besonders risikobehafteter Embryonen nicht schon deshalb erlaubt sein, weil ein Verbot eine ethische Konfliktlage zu wenig berücksichtigte. Es sind viele ethische Konfliktlagen denkbar, die sich überwinden ließen, gäbe es nicht Verbote. Wie ist es etwa um die Konfliktlage von Menschen bestellt, die mit Straßenraub und Trickbetrug genug Geld einnähmen, um kranken Angehörigen endlich einen Erholungsurlaub spendieren zu können? Müsste man da Verständnis haben und das Verbot von Straßenraub und Trickbetrug lockern? Zudem entsteht die Konfliktlage der PID-Kundschaft doch wohl nur, weil eine hochgerüstete Fertilitätsindustrie ihre Technologie flächendeckend an den Mann bringen will. Der Mensch ist keine Monade. Niemand ist eine Insel. Die Justizministerin arbeitet jedoch an diesem Zerrbild. Der einzelne soll so frei sein, tun zu dürfen, was die Freiheit aller gefährdet. In der Stellenbeschreibung für Leutheusser-Schnarrenbergers Amt dürfte eine solche Auffassung ein Ausschlusskriterium sein.
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