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> Einsamkeit in der Postmoderne

Kerstin allein zu Haus

Das Gesicht der Postmoderne: makellos, erfolgreich, einsam. Kerstin hat (eigentlich) alles – außer wahre Freunde.

The European

Ostermontag. Eine E-Mail. Von Kerstin. Von Kerstin?!?! Ob ich denn in Deutschland sei. Und nicht Freitagabend vorbeikommen wolle. Zwei Tage habe ich nun schon gegrübelt: Wieso ich? Schließlich haben wir uns dreizehn Jahre lang weder gesehen noch gehört. Dann überkam mich die nach-österliche Erleuchtung: Kerstin ist allein zu Haus. Und damit das Gesicht der Postmoderne: makellos, erfolgreich, einsam.

Die Welt als Wohnzimmer …
Schwer zu glauben. Denn Kerstin nennt nichts anderes als die Welt ihr Wohnzimmer: Betriebswirtschaftsstudium in München. Nach dem Vordiplom ging sie nach Paris. Zum Master nach New York. Dann mit einem Förderprogramm der Bosch-Stiftung für zwei Jahre nach Schanghai. Anschließend wieder zurück nach München. Doch dort ist sie nie angekommen. Dank ihrer Beratungsgesellschaft. So hat sie im vergangenen Jahr unter der Woche die genossenschaftlichen Banken in Braunschweig saniert. Nun tüftelt sie an Gewinnstrategien für Elektronikhersteller in der Oberpfalz. Immer von Montag bis Donnerstag, acht bis 20 Uhr. Am Freitag nur bis nachmittags um vier. Dann geht’s „nach Hause“. Nach München. Maxvorstadt. In die schicke Neubauwohnung mit den gläsernen Wänden. Der weißen Designer-Küche. Dem edlen Leder-Sofa. Und der eingebauten Einsamkeit.
… aber allein auf der Couch
Dabei hat Kerstin 1451 Connections (LinkedIn), 1167 Kontakte (Xing) und 879 Freunde (Facebook). Nur eben keinen am Freitagabend in München. Denn die gehen mit ihrer/m Liebsten entweder ins Kino, Sushi-Essen oder lümmeln sich auf der heimischen Couch. Das macht Kerstin auch – nur eben allein. Und so steht meine ehemalige Schulfreundin sinnbildlich für die Postmoderne, in der wir stets mobil und global vernetzt "wie Atome vor uns hin diffundieren":http://www.theeuropean.de/debatte/1855-neue-zweizeitigkeit. Bisweilen verhaken wir uns für eine Weile. So wie Kerstin und Daniel, für den sie zwei Jahre lang beinahe jedes Wochenende nach London geflogen ist. Bis Daniel nach L.A. reiste. Und mit einer blonden Zahnarzthelferin zurückkam. Nun ist Kerstin also auch dem Namen nach Single. Sex hat sie trotzdem. Zweimal die Woche. Mit Phillip. Auch Unternehmensberater. Auch in der Oberpfalz gestrandet. Und gut aussehend. Nur in den Arm nehmen, das kann er nicht. Zuhören noch weniger. Deshalb ist er was für Kerstins Bett. Aber nicht für die Couch. Auf der verzweifelt Kerstin weiterhin. Jeden Freitagabend. Allein.
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