„Wir können die Vorstädte nicht plattwalzen“
Was heißt es, die Welt durch Geschichten zu erkunden? Martin Eiermann sprach mit dem Autor und Wissenschaftler Carlo Rotella über Blues, Boxen und die kulturelle Bedeutung der Hypothekenblase.

*The European: Wir wollen mit Ihnen über das Geschichtenerzählen sprechen. Was heißt es, die Welt anhand von Geschichten zu erkunden?* Rotella: Ein Großteil der Arbeit eines Autors zielt darauf ab, einen lebendigen Charakter für den Vordergrund einer Geschichte zu finden und dann zu erzählen, wie diese Person die Konsequenzen größerer oder historischer Prozesse erlebt. Wissenschaftler machen das oft so, wenn wir für ein Massenpublikum schreiben. Wir sitzen auf einem ganzen Haufen an Wissen und müssen dann überlegen: Wie können wir das so verpacken, dass es auch für Leser interessant ist, die keine Experten sind? Ich habe einmal ein Porträt des Boxers "Shannon Briggs":http://de.wikipedia.org/wiki/Shannon_Briggs geschrieben, der einer der letzten großen amerikanischen Schwergewichtsboxer war. Er hat sich immer als „Great Black Hope“ bezeichnet, zu einer Zeit, in der die anderen Champions zunehmend aus Osteuropa kamen. Dabei sind wir Amerikaner eigentlich immer davon ausgegangen, dass der Schwergewichts-Titel uns gehört, oder genauer gesagt den Afroamerikanern. Dahinter steckt eine große Geschichte über den Wandel Osteuropas seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und über den Export von Talenten in den Westen: Boxer, Turner, Pianisten, Gangster, Stripper, Pornodarsteller, alle möglichen hartgesottenen Menschen. Die Frage ist dann, was die Amerikaner eigentlich in der Zeit gemacht haben. Die Antwort: Heute spielen die alle Football. Briggs hatte Asthma, deshalb hat er stattdessen mit dem Boxen angefangen. *The European: Nehmen Sie den Leser an der Hand und führen ihn ans Licht, oder ist so eine Geschichte ein Erkundungsprozess nach dem Motto: Mal schauen, was wir finden, wenn wir lange genug suchen?* Rotella: Das kommt auf die Geschichte an. Ich habe einmal einen Reisebericht geschrieben, da bin ich nach Chicago gefahren, um mir Musik anzuhören. Die einzige Auflage war, dass ich keinen Blues hören würde, weil das zu offensichtlich ist und weil ich damit groß geworden bin. Ich bin dann in Polka-Clubs gelandet, und das hat mich weiter zu den osteuropäischen und mexikanischen Gemeinden geführt, weil dort die Musik sehr ähnlich ist. Der Artikel war wie eine Erkundungsreise. Und manchmal bin ich eher der stille Beobachter. Oft geht es dann darum, wie jemand sich weiterentwickelt hat. "Buddy Guy":http://de.wikipedia.org/wiki/Buddy_Guy war ein Blues-Musiker aus Chicago, über den ich einmal etwas geschrieben habe. Das ging dann etwa so: Es gab einmal diesen Kerl, der Gitarre spielen konnte und zwei besondere Charakterzüge hatte. Zum einen wollte er nicht nur Musik machen, sondern Krach. Er wollte die Grenzen der Musik ausloten. Und gleichzeitig hatte er ein fast schon pathologisches Bedürfnis, das Publikum zufriedenzustellen. Guy kam also 1957 nach Chicago und ist dort sofort in die Welt aus kleinen Clubs und Indie-Plattenfirmen abgetaucht, wo zum Beispiel auch "Muddy Waters":http://de.wikipedia.org/wiki/Muddy_Waters unterwegs war. Und dann hat diese Welt sich enorm gewandelt und Guy war auf einmal mittendrin in diesem Umbruch. Seine Musik hat sich verändert, sein Gesang hat sich verändert, seine Einflüsse auch. Auf einmal konnte er sich an Rockmusikern orientieren und trotzdem Blues machen. Können wir uns also Buddy Guy ansehen und dabei die Geschichte vom Wandel der amerikanischen Großstadt erleben? *The European: Da kommt der Wissenschaftler durch.* Rotella: Stimmt. Ich bin Amerikanist und eine wichtige Frage für uns ist, wie Stil und Geschichte zusammenhängen. Die Klischeefrage ist immer: Warum werden in einer Kultur bestimmte Geschichten zu einer bestimmten Zeit erzählt? Was heißt es, Blues zu spielen? Die Antwort war 1955 eine andere als 1975 oder 2005. Und wenn wir nach Antworten suchen, landen wir ganz schnell bei Themen, die sehr interessant für uns Wissenschaftler sind. Mit dem Niedergang der Industrie ist der Tourismus in Chicago viel wichtiger geworden. Und erst als die Industrie in den 70er-Jahren wirklich am Boden lag, hat sich das Image von Chicago als Heimat des Blues vollständig etabliert.