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> Die Scheindebatte

Ohne Einwanderer schafft sich Deutschland ab

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Die vom Sarrazin-Buch angestoßene Integrationsdebatte ist scheinheilig. Erstens brauchen wir die Einwanderer, zweitens gab es die Debatte bereits und drittens sind nicht Einwanderer das Problem, sondern die stetig wachsende soziale Ungleichheit.

The European

Die von Thilo Sarrazins haarsträubenden Thesen ausgelöste Debatte über Einwanderung und Integration will einfach nicht verstummen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Unionspolitiker wie CSU-Chef Horst Seehofer und jüngst gar Bundeskanzlerin Angela Merkel stets neues demagogisches Öl ins schwelende Integrationsfeuer gießen. Dabei ist die Einwanderungsdiskussion ebenso abwegig wie althergebracht. Mehr noch: Sie ist vor allem eine Scheindebatte. Denn das eigentliche Problem der Republik liegt weder in der Zahl der hier lebenden Ausländer noch in ihrer Integrationsleistung, sondern vielmehr in der immer weiter um sich greifenden Ungleichheit im Land.

Ohne Einwanderer schafft sich Deutschland ab
Abwegig ist die Diskussion deshalb, weil die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft Einwanderung zu einer absoluten Notwendigkeit macht. Ohne den jährlichen Zufluss von 200.000 Immigranten, so kalkulierte die Süssmuth-Kommission im Jahr 2001, würde die Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2020 um 23 Millionen Menschen, also mehr als ein Viertel, sinken. Stattdessen wird der Rückgang "nur“ bei 12 Millionen liegen. Um es auf einen Sarrazin’schen Nenner zu bringen: Ohne Einwanderer schafft sich Deutschland ab. Wer dabei dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgt, kann sich ausrechnen, wie wählerisch wir wirklich bei der Aufnahme neuer Arbeitskräfte sein können. Als althergebracht kann man den deutschen Disput deswegen bezeichnen, weil er sich in ähnlicher Weise bereits im 19. Jahrhundert zugetragen hat. In den damaligen Einwanderungshochburgen Argentinien, Brasilien und den Vereinigten Staaten wurde, wie in der gegenwärtigen deutschen Diskussion, die "produktive Funktion“ (Sarrazin) von Immigranten für die jeweiligen nationalen Ökonomien angezweifelt. Stattdessen wurde den Neuankömmlingen – zu Unrecht – unterstellt, sie würden die Löhne (und damit die Lebensverhältnisse) der Arbeiterschicht nach unten drücken. Das Resultat bildeten bis dato nicht gekannte Einwanderungsrestriktionen.
Die Mittelschicht schrumpft
Aber eben jene Beschränkungen können, so haben Harvard-Ökonom Jeffrey Williamson und sein Kollege Timothy Hatton festgestellt, nicht auf tatsächliche Lohnrückgänge zurückgeführt werden. Stattdessen korrelieren sie signifikant mit der Zunahme von Einkommensungleichheit in den jeweiligen Gesellschaften. Das heißt, dass sich nationale Diskurse immer dann auf Einwanderer fokussieren, wenn die gesellschaftliche Schere auseinandergeht. Wen wundert es da, dass die deutsche Immigrationsdebatte just in jene Zeit fällt, in der sich die Kluft zwischen Arm und Reich im Land in rasanter Weise vergrößert? Eine diesjährige Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kommt zu dem Schluss, dass die bundesrepublikanische Mittelschicht (zu der man bereits bei einem Nettomonatseinkommen von 860 Euro gehört!) rapide schrumpft, während die OECD Deutschland unter den Vorreitern beim Zuwachs von Einkommens- und Vermögensungleichheit führt. So muss also eine Debatte um Einwanderung und deutsche Leitkultur herhalten, um vom eigentlichen Problem der Republik abzulenken. Viel Erfolg verspricht diese politische Strategie allerdings nicht. Denn Stuttgart 21 und die jüngsten Castor-Proteste zeigen, dass der ebenso generationen- wie schichtübergreifende Unmut gegen ein politisches System zunimmt, das in zunehmendem Maße "profit over people“ (Noam Chomsky) setzt.
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