So pessimistisch sind Deutschlands Top-Ökonomen
Die Wirtschaftsweisen legen ihr Jahresgutachten vor. Es fällt so pessimistisch aus, wie seit Jahren nicht. Rente, Arbeitskräftemangel, Finanzierung von unternehmen – Deutschland glänzt nicht, sondern flackert nur noch. Es gibt Reformvorschläge – doch das Schicksal der Wirtschaftsweisen ist es, dass ihre Vorschläge bisher niemals befolgt wurden. Dies ist die Kurzfassung des Gutachtens.Von den Wirtschaftsweisen

Die Corona-Pandemie und die Energiekrise haben in Europa und insbesondere in Deutschland deutliche Spuren hinterlassen. Die deutsche Wirtschaftsleistung liegt derzeit nahezu auf demselben Niveau wiezu Beginn der Corona-Pandemie vor knapp vier Jahren. Deutschland verzeichnet damit seit Beginn der Corona-Pandemie das geringste Wachstum aller Volkswirtschaften des Euro-Raums. Zwar kam Deutschland zunächst noch vergleichsweise gut durch die Corona-Pandemie. Während der Energiekrise entwickelte sich die deutsche Wirtschaft jedoch sehr schwach. Gegenüber dem Vorjahr dürfte die Wirtschaftsleistung im aktuellen Jahr schrumpfen und im kommenden Jahr deutlich langsamer wachsen als in den 2010er-Jahren.
Die aktuelle Entwicklung ist angesichts der im vergangenen Jahr stark gestiegenen Energiepreise und des hohen Anteils der energieintensiven Industriezweige an der deutschen Bruttowertschöpfung nicht überraschend. Ein noch tieferer Einbruch konnte durch die umfangreichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Umstellung der Energieversorgung und zur Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Energiekrise verhindert werden. Zudem zeigten sich die Unternehmen und privaten Haushalte anpassungsfähig. Allerdings deutet die im Jahresgutachten präsentierte Mittel- und Langfristprojektion des deutschen Produktionspotenzials, unabhängig von der aktuellen konjunkturellen Schwäche, auf deutliche Wachstumshemmnisse für die kommenden Jahrzehnte hin.
Diese Hemmnisse zeichnen sich bereits seit vielen Jahren ab und wurden bisher nicht ausreichend adressiert. Erstens ist absehbar, dass durchdie demografische Alterung der Anteil der 20- bis 64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung sinken wird und das inländische Arbeitsvolumen zurückgeht. Zweitens sind das Produktivitätswachstum und das Wachstum des Kapitalstocks, aber auch der Modernitätsgrad des Kapitalstocks, seit Jahrzehnten rückläufig. Dies spiegelt sich in den niedrigen und gesunkenen Gründungsraten und der geringen Verfügbarkeit von Wagniskapital für junge Wachstumsunternehmen wider. Deutschland droht somit eine Alterung nicht nur seiner Bevölkerung, sondern auch seiner industriellen Basis.
Um das Wachstumspotenzial zu stärken, sollte beiden Entwicklungen entgegengewirkt werden. So sollte durch verbesserte Erwerbsanreize und Reformen der Zuwanderungspolitik das Sinken des Arbeitsvolumens gedämpft werden. Gleichzeitig sollten die Innovations- und Investitionstätigkeit gesteigert werden, um die Wirtschaft zu modernisieren und das Produktivitätswachstum zu steigern. Zur Modernisierung der Wirtschaft können der Einsatz neuer Querschnittstechnologien wie beispielsweise Künstlicher Intelligenz (KI), ein dynamisches Gründungsgeschehen und insbesondere junge Wachstumsunternehmen entscheidend beitragen. Die Wirtschaftspolitik sollte den damit verbundenen Strukturwandel unterstützen. Ein zu enger Fokus auf Wirtschaftsbereiche, die im Strukturwandel gefährdet sind, würde die notwendige Reallokation von knappen Ressourcen hin zu neuen Geschäftsfeldern bremsen.
Problematisch ist vor diesem Hintergrund, dass das Angebot an kapitalmarktbasierter Finanzierungfür Unternehmen in Europa eingeschränkt istund dass dieeuropäischen Kapitalmärkte weiterhin stark fragmentiert sind. Dies behindert Investitionen in unsichere und risikobehaftete Projekte und bremst die grüne Transformation sowie mögliche disruptive Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung. Auf deutscher und europäischer Ebene sollten Reformen des Kapitalmarkts realisiert werden, die zu einem tieferen und besser integrierten Kapitalmarkt führen und die grüne sowie die digitale Transformation maßgeblich unterstützen können. Erhebliche Fortschritte sind erforderlich bei der Wachstumsfinanzierung junger Unternehmen durch Wagniskapital.
Bei der diesjährigen Analyse der Einkommensverteilung zeigt sich, dass in den vergangenen 20 Jahren die Armutsgefährdung in Deutschland zugenommen hat. Dies liegt vor allem daran, dass sich die Realeinkommen im unteren Einkommensbereich unterdurchschnittlich entwickelten. Im Gutachten werden verschiedene Reformoptionen für das Steuer-Transfer-System diskutiert, die die Armutsgefährdung reduzieren und Erwerbsanreize stärken können, ohne die öffentlichen Haushalte zusätzlich zu belasten.
Die demografische Alterung wirkt nicht nur dämpfend auf das Potenzialwachstum, sie erhöhtauch den Finanzierungsbedarf der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV). Durch die sinkende Anzahl an Beitragszahlerinnen und -zahlern steigen nach geltendem Recht auf mittlere und lange Sicht die Beitragssätze zur GRV wie auch der Bundeszuschuss. Dies erhöht die Arbeitskosten und reduziert die verfügbaren Einkommen sozialversicherungspflichtig Beschäftigter. Im aktuellen Jahresgutachten werden Reformoptionen für die GRV vorgestellt, die den Finanzierungsbedarfder GRV reduzierenund ihre Finanzierung langfristig sicherstellen, jedoch gleichzeitig die Armutsgefährdung im Alter reduzierenkönnen. Darüber hinaus wird vorgeschlagen, eine neue Form der ergänzenden, kapitalgedeckten Altersvorsorge zu etablieren.
Evidenzbasierte empirische Forschung und Politikberatung, die eine fundierte Entscheidungsgrundlage für die Politik und öffentliche Verwaltung bieten, sind auf eine zuverlässige und umfangreiche Datengrundlage angewiesen. Die deutsche Forschungsdateninfrastruktur hat sich in einigen Bereichen deutlich verbessert, ist aber im internationalen Vergleich immer noch rückständig.Um sie zu verbessern, sind eine Anpassung der Statistikgesetzgebung, ein Forschungsdatengesetz und eine Verbesserung der Ressourcen der amtlichen Statistik notwendig.