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> Die Occupy-Bewegung

Die Sehnsucht, wieder einmal neu anzufangen

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Die Protestbewegungen zeigen: Politik funktioniert. Wir engagieren uns, wir denken nach über die Zukunft unserer Gesellschaft. Statt von Wut sind die Demonstranten in Frankfurt und New York von Sehnsucht getrieben – Sehnsucht nach einer Welt, die einfach funktioniert.

The European

Besetzt die Wall Street! Aber Freiheit für das Internet! Das sind zwei Schlachtrufe, die von eher kleinen politischen Bewegungen propagiert werden, die sich dennoch quer durch die Landschaft der etablierten Parteien einer erstaunlichen Wertschätzung erfreuen. Offenbar sind die etablierten Parteien so etabliert nicht mehr, um nicht mit höchster Wachsamkeit auf Wählerpotenziale und Programmatiken zu reagieren, die wie das Zünglein an der Waage den Ausschlag für den Erfolg eher der einen als der anderen Partei oder Koalition geben können.

Politik funktioniert!
Insofern sind beide Bewegungen ein Beleg für das Funktionieren der Politik in einer nach wie vor modernen Gesellschaft. Sie markieren neue Territorien, die Mehrheit einer Gegnerschaft gegen Gier und Korruption im ersten Fall, die Minderheit einer virtuellen Onlinegemeinschaft im zweiten Fall, die von der Politik erst noch erobert und besetzt werden müssen, um ihrem Programm der Sicherstellung von Teilnahmechancen für alle an politischen Entscheidungen gerecht zu werden. Mit diesem Programm ist die Politik seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution unterwegs: Inklusion der Gesamtbevölkerung in kollektiv bindende Entscheidungen der Gestaltung eines Gemeinwesens. Zugleich jedoch sprengen beide Bewegungen das bisher bewährte Schema, mit dem dieses Programm realisiert wurde. Sie zielen nicht auf eine Politik, in der eine Mehrheit einer Minderheit oder umgekehrt gegenübersteht, sondern in der mit einem letztlich undemokratischen Universalitätsanspruch alle gegen niemanden positioniert werden. „Occupy Wall Street“ vertritt 99 Prozent nicht der Wähler, sondern der Bevölkerung. Und die Piratenpartei vertritt alle Internetbenutzer. So zumindest lauten die Ansprüche. Das Gegenüber dieser Bewegungen ist kein politisch adressierbarer Feind, dessen Minderheitenposition bekannt wäre und bekämpft werden könnte, sondern ein Störer, der noch nicht verstanden hat, dass Bankgeschäfte und Internetsperren niemandem nutzen.
„Politik der Sehnsucht“ statt „Politik der Wut“
Gegen die undurchschaubare Komplexität einer Gesellschaft, die wirtschaftlich und politisch, von Recht, Religion, Erziehung, Kunst und Wissenschaft zu schweigen, mit komplizierten Zeitkalkülen, laufend überprüften Ressourcenzugriffen und vielfältigen Sozialstrukturen sicherzustellen versucht, dass bald sieben Milliarden Menschen miteinander auskommen, einander ernähren und sich aus dem Weg gehen können, stellen die beiden genannten Bewegungen zwei einfache Prinzipien: Ehrlichkeit und Offenheit, konturiert durch Ziellosigkeit und das Recht auf die Kontrolle persönlicher Daten. Die Sehnsucht, der die Politik mit so viel und so präzise kalkulierter Sympathie begegnet, ist eine Sehnsucht, wieder einmal neu anzufangen. Man schaut sich um, vergewissert sich seiner Mitmenschen, öffnet die Laptops und macht: Gesellschaft. Dass dies nur geht, wenn alles andere auch geht, wenn die Züge rollen, die Versicherungsformulare ausgefüllt werden, Prüfungen abgehalten, Kranke behandelt und Predigten gehalten werden, wird großzügig übersehen. Aufhören und Anfangen sind die beiden Botschaften dieser beiden Bewegungen. Aufhören mit allem, was falsch ist (Guy Fawkes), und anfangen mit einer digitalen Gesellschaft. Am 18. Oktober 2011 ist Friedrich Kittler gestorben. Seine Leistung war nicht zuletzt eine Medientheorie, die davor warnte, zu glauben, man könne das eine aufhören und etwas anderes anfangen. Viel zu viel läuft immer schon mit.
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