Deutschlands Zeitenwende – eine Außenansicht
Haben die zurückliegenden Tage eine Zeitenwende in Deutschland ausgelöst? Eine Außenansicht von Jackson Janes.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz im Dezember letzten Jahres sein Amt antrat, verstand er sein Mandat in erster Linie als Wiederbelebung der innenpolitischen Situation in Deutschland. Die Rolle der Außenpolitik spielte bei seiner unerwarteten Wahl eine weitaus geringere Rolle. Der Koalitionsvertrag mit seinen politischen Partnern, den Grünen und den Freien Demokraten, enthielt in der Tat weit weniger Aussagen über die Zukunft der deutschen Außenpolitik.
Aber Wladimir Putin sollte mehr Aufmerksamkeit erregen. Sein Einmarsch in der Ukraine hat die Außen- und Militärpolitik ganz nach vorne auf die Tagesordnung katapultiert. Am 27. Februar stellte sich Scholz den Folgen nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Europäische Union, die transatlantischen Beziehungen und sogar für die Parameter der geopolitischen Politik in absehbarer Zukunft.
Die Rede von Scholz: überraschend und erfrischend klar
Die Rede, die Scholz vor dem Bundestag hielt, hat die deutschen Partner und sicher auch Präsident Putin überrascht. Seine Sprache war erfrischend klar: Dies ist Putins Krieg der Wahl und er ist verantwortlich für die Zerstörung der europäischen Sicherheit. Indem er die massiven Wirtschaftssanktionen darlegte, die gemeinsam mit den Partnern gegen Russland verhängt werden sollen, unterstrich er sowohl die Entscheidung, die Ukraine mit tödlichen Waffen zu beliefern, als auch die Notwendigkeit, die Kapazität der deutschen Streitkräfte in den kommenden Jahren exponentiell zu erhöhen.
Scholz beendete seine Rede mit dem Hinweis darauf, dass Deutschland seit dreißig Jahren in einem geeinten Land leben könne und "wenn wir wollen, dass die letzten 30 Jahre mehr als eine historische Ausnahme bleiben, dann müssen wir alles tun, um den Zusammenhalt der Europäischen Union, die Stärke der NATO und noch engere Beziehungen zu ihren Freunden und Partnern und allen, die unsere Überzeugungen weltweit teilen, zu erhalten".
Während diese neue Botschaft im Bundestag verkündet wurde, fanden in ganz Deutschland Massendemonstrationen zur Unterstützung der Ukraine statt. Scholz und seine Koalitionspartner haben eindeutig das Gefühl, dass die deutsche Öffentlichkeit hinter ihnen steht, auch wenn Russland mit eigenen Repressalien zurückschlagen könnte, insbesondere wenn die Entscheidung in Berlin, die Gaspipeline Nordstream2 zu stoppen, dazu führen wird, dass Deutschland weniger Gas für den heimischen und industriellen Bedarf zur Verfügung hat.
Deutschland – das schwächste Glied der NATO
Es ist noch nicht lange her, dass Deutschland in Europa und den Vereinigten Staaten heftig kritisiert wurde, weil es die Pipeline nicht gestoppt hat, weil es nicht bereit war, Waffen an die Ukraine zu liefern, und weil es zögerte, strenge wirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen, wie z. B. den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System, wodurch die Bankgeschäfte stark eingeschränkt würden. Im Zusammenhang mit seinem jüngsten Besuch in Washington wurde Scholz von Kongressmitgliedern in Washington und in Europa darauf hingewiesen, dass Deutschland das schwächste Glied in der NATO sei. Der Verweis Deutschlands auf sein Erbe in den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts als Erklärung für die Nichtbereitstellung von Kriegswaffen in Jahrhunderts als Erklärung für die Nichtbereitstellung von Kriegswaffen in Konfliktgebieten wurde als Tarnung für die eigenen wirtschaftlichen Interessen bezeichnet.
Im deutschen Narrativ wurde das Bemühen um die Aufrechterhaltung friedlicher Bemühungen und des Dialogs bei der Bewältigung von Konflikten als moralische Pflicht zur Förderung von Diplomatie und Dialog dargestellt. Doch die letzten drei Jahrzehnte seit der Wiedervereinigung haben uns ständig an ein sich veränderndes Umfeld erinnert, in dem Krieg und Konflikte die globale Arena, auch in Europa, immer wieder herausfordern. Neben den Balkankriegen war die Annexion der Krim im Jahr 2014 ein Zeichen für Putins Bestreben, die europäische Landkarte zu verändern. Die Ereignisse, die sich jetzt in der Ukraine abspielen, zeugen nur von seinem ungebrochenen Appetit, die Ergebnisse des Untergangs der Sowjetunion rückgängig zu machen.
Abgesehen von der massiven Bodeninvasion in der Ukraine hat Putin nun gezeigt, dass er bereit ist, sogar mit Atomwaffen zu drohen, um seine Gegner einzuschüchtern.
Die Anklänge an das Patt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Jahr 1962 wegen der Stationierung russischer Raketen auf Kuba sind in diesen Tagen zu hören. Während jene gefährliche Konfrontation durch geschickte Geheimdiplomatie vermieden werden konnte, sind die Gefahren heute angesichts der Unberechenbarkeit der Motive Wladimir Putins ebenso bedrohlich. Heute werden die Drohungen Putins vorerst als rhetorisch betrachtet. Doch die Androhung eines Atomkriegs gegen Nachbarländer ist immer ernst zu nehmen und erfordert ernsthafte Konsequenzen.
1962 hatte Deutschland gerade den Bau der Mauer erlebt, die in den nächsten 28 Jahren die Teilung des Landes zementieren sollte. Mit der Unterstützung seiner Verbündeten und Partner konnte Deutschland schließlich die Wiedervereinigung erreichen, doch dazu bedurfte es eines Gleichgewichts aus diplomatischem Dialog und entschlossener militärischer Abschreckung, einschließlich des nuklearen Schutzschirms der Vereinigten Staaten. Angesichts der zunehmenden Drohungen Putins in Europa muss dieser Schutzschirm intakt und funktionsfähig bleiben.
Mit Einigkeit gegen Putin und seine Drohungen
Putins Drohungen kann wieder mit der gleichen Einigkeit begegnet werden, die in der Vergangenheit zusammengehalten hat. Dies ist in der Tat eine Gelegenheit, sich daran zu erinnern, wie wichtig das transatlantische Bündnis in einer unsicheren Welt bleibt. Das zeigt sich jetzt in einer wiedererstarkten NATO und in der Solidarität der EU mit der Ukraine. Es spiegelt sich auch in der aktuellen Politik in Washington wider, die innerhalb beider Organisationen eng koordiniert wird. Trotz der Beschränkungen des direkten Engagements der NATO-Truppen in der Ukraine werden die Bemühungen um eine umfassende Versorgung der Ukraine mit Ressourcen zur Abschreckung einer russischen Invasion intensiviert und intensiviert.
Darüber hinaus stockt die NATO ihre Kräfte auf, wie Bundeskanzler Scholz in seiner Rede angedeutet hat, "um jeden Quadratmeter des NATO-Territoriums mit unseren Verbündeten zu verteidigen".
Die harte Arbeit, die Konfrontation mit der russischen Aggression umzusetzen und aufrechtzuerhalten, wird jedoch langfristig weiterhin eine enge Zusammenarbeit in den transatlantischen Beziehungen erfordern, so wie es in früheren Jahrzehnten der Fall war. Das ging nicht ohne Reibungen und Auseinandersetzungen ab, und zwar sowohl im innerstaatlichen Rahmen der einzelnen Partner als auch in der größeren transatlantischen Arena.
Doch wie in Zeiten akuter Krisen ist es für die Amerikaner genauso wichtig wie für die Deutschen, die Bedeutung dieser Herausforderung zu verstehen und den einzigartigen Wert der transatlantischen Partnerschaft zu begreifen, die zu ihrer Bewältigung erforderlich ist. Diese Erkenntnis muss auf beiden Seiten des großen Teiches und innerhalb Europas gefördert werden.
In seiner historischen Rede hat Bundeskanzler Scholz nun seine deutschen Mitbürger daran erinnert, dass sowohl Dialog als auch Abschreckung notwendig sind, um den Gefahren und Spaltungen von heute zu begegnen. Er machte deutlich, dass Deutschland seine Fähigkeiten und sein Engagement stärken muss, um andere zu schützen, so wie sie in der Vergangenheit geholfen haben, Deutschland zu schützen.
Bundeskanzler Scholz betonte in seiner Rede sogar, dass Deutschland gerade vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit seine Fähigkeit stärken müsse, den heutigen Bedrohungen durch Putin zu begegnen. Eine ähnliche Botschaft erhielten die Deutschen vor über zwei Jahrzehnten während des Serbienkriegs 1999. Der damalige Außenminister Joseph Fischer plädierte für ein deutsches Engagement in diesem Konflikt mit der Begründung, dass die Verhinderung eines weiteren Krieges auch die Verhinderung eines weiteren Auschwitz erfordere.
Die Botschaft des Kanzlers: Mehr Investitionen in die Sicherheit
[caption id="attachment_49879" align="alignnone" width="500"] US-Präsident Joe Biden und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus, Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Alex Brandon[/caption]
Heute lautet Scholz' Botschaft, dass Deutschland mehr in die Sicherheit des Landes investieren muss, um Freiheit und Demokratie zu schützen, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch in allen seinen Partnerschaften in Europa und auf der globalen Bühne.
Die Deutschen haben den Moment der Wiedervereinigung vor drei Jahrzehnten als die Wende bezeichnet. Scholz hat diesen Moment eine Zeitenwende genannt, einen Wendepunkt in der Geschichte Europas. So wie es nach der deutschen Wiedervereinigung schwierige Herausforderungen zu bewältigen gab und immer noch gibt, wird diese Zeitwende Deutschland mit ernsthaften Anpassungen sowohl in der Politik als auch in der Sichtweise der Verantwortlichkeiten innerhalb der Regierung und in der Gesellschaft insgesamt konfrontieren. Die Rolle des Militärs, die Notwendigkeit einer alternativen Energieversorgung, der wirtschaftliche Handel mit Russland und die Darstellung der historischen Beziehungen zu Russland als Nation werden in absehbarer Zukunft komplizierte Debatten sein. Die Debatte über die strategische Rolle und die Verantwortung Deutschlands auf der Weltbühne wird und sollte fortgesetzt werden, nicht zuletzt, weil beides von zentraler Bedeutung ist.
Die Rede des Bundeskanzlers bot eine klare Grundlage für diese Bemühungen. Es geht nicht nur um Deutschland oder nur um die Ukraine. Es geht um die Zukunft eines ganzen, freien, sicheren und friedlichen Europas, und, wie er abschließend sagte, "wir werden es verteidigen".