„Es gibt Gegensätze, die kann man nicht zukleistern“
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Seit 23 Jahren wälzt die Stasi-Unterlagenbehörde Akten. Roland Jahn ist ihr dritter Chef. Im Gespräch mit Thore Barfuss und Sebastian Pfeffer fühlt er den Autoren unserer Debatte auf den Zahn. Und das tut richtig weh.

*The European: Herr Jahn, was ist 23 Jahre nach Gründung Ihrer Behörde die wichtigste Aufgabe?* Jahn: Diktatur begreiflich machen, um Demokratie zu gestalten. Das ist der Kern. Der setzt sich natürlich aus vielem zusammen. *The European: Nämlich?* Jahn: Aus den Betroffenen, die die Akten nutzen, ihr Schicksal aufklären und ihre Erfahrung weitergeben. Aus den Forschern und Journalisten, die die Akten zur Recherche heranziehen. Und natürlich auch aus der detaillierten Darstellung der Stasi-Tätigkeit in Publikationen, Ausstellungen und Lehrmaterial. *The European: Wenn Sie sagen, „Diktatur begreifen“, hat das zwei Aspekte. Zum einen, das bereits Verstandene zu bewahren. Zum anderen, die Defizite aufzuarbeiten.* Jahn: Die Diktatur zu begreifen, heißt für mich, ihre Mechanismen zu begreifen. Es hilft nicht, auf die Täter von damals zu zeigen und sie zu beschimpfen. Wir wollen wissen, wie sie zu Verantwortlichen der Diktatur wurden. Warum sperren Menschen andere Menschen ein, nur weil diese ihre Meinung sagen? Dies zu ergründen ist ein wichtiger Prozess. *The European: Wie schätzen Sie den Stand der Aufarbeitung ein?* Jahn: Aufarbeitung und Aufklärung kann es nie genug geben. Einiges ist schon geleistet worden, auch wenn es zum Beispiel beim Wissen der Jugend noch Defizite gibt. Auffällig ist, dass in den Familien noch zu viel geschwiegen wird. Es wird zu wenig über das gesprochen, was Eltern oder Großeltern gemacht und erlebt haben. Da habe ich aber große Hoffnungen. *The European: Weshalb?* Jahn: Weil gerade eine Generation nachwächst, die nicht involviert war. Die Kinder der DDR organisieren den Dialog mit ihren Eltern. Das Netzwerk „3. Generation Ost“ hat sich dafür gegründet, und die noch Jüngeren gehen total unvoreingenommen an die Sache heran. *The European: "In unserer Debatte":http://www.theeuropean.de/debatte/451-ddr-brd stellen wir die Frage, wie es 23 Jahre nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur um die Aufarbeitung bestellt ist und ob heute eine Bewegung wie die der 68er nötig ist. Halten Sie diesen Vergleich für sinnvoll?* Jahn: Er ist sinnvoll, weil wir auch heute erleben, dass eine junge Generation frische Fragen stellt: Warum haben meine Eltern mitgemacht? Warum haben sie sich angepasst? Oder: Wie sind sie zum Widerspruch gekommen? Klar ist: Das kann nicht mit der NS-Zeit gleichgesetzt werden. Der Terror der Nazis ist einmalig. *The European: Natürlich. Aber sehen Sie noch weitere Unterschiede?* Jahn: Ein Unterschied ist sicher, dass wir bei der DDR-Aufarbeitung in den letzten 20 Jahren viel mehr öffentlich diskutiert haben. Es gibt viel bessere Informationsmöglichkeiten, als das 1945 der Fall war. Wenn junge Leute mit dem Thema konfrontiert werden, sind sie hoch interessiert. Bei Veranstaltungen sage ich immer: „Bleibt nur hier, wenn es euch wirklich interessiert.“ Ich erlebe aber immer wieder, dass es für Jugendliche spannend ist, auf die Vergangenheit der Diktatur zu schauen. *The European: Warum ist das so?* Jahn: Weil junge Menschen etwas für ihr eigenes Leben lernen können. Es geht um ganz grundlegende Dinge: Verrat oder Freundschaft, Anpassung oder Widerspruch.