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> Deutschland als angeblicher Motor Europas

Generation Pillemann

Artikel vom

Europa schaut hoffnungsvoll auf die deutsche Schaffenskraft. Zeit für einen emotionalen Faktencheck beim Blick aus der Straßenbahn.

The European

Medien und politische Parteien sind sich in seltener Geschlossenheit einig: Deutschland ist der Motor Europas. Philip Plickert erzählte es Mitte August exemplarisch in der „FAZ“: "„Deutschland ist der Stabilitätsanker (Europas), der bislang erstaunlich robust ist. (…) Südeuropa ist dagegen im Strudel aus schrumpfender Wirtschaft, hoher Arbeitslosigkeit und steigenden Zinsen gefangen.“":http://m.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/deutschland-als-stabilitaetsanker-europas-konjunkturgefaelle-11856069.html Da könnte man nun als Deutscher, nachdem man anstandshalber seine Sorge um den Fortbestand eines Wohlstandseuropas kundgetan hat, vor Stolz platzen und sich drin suhlen. Aber wehe, es bleibt noch Zeit, den Faktencheck zu machen. Allenthalben düstere Prognosen vieler Fachleute, die viele richtige und schlaue Sachen gesagt haben. Allen voran der geschätzte Wolfgang Münchau "auf „Spiegel Online“":http://www.theeuropean.de/alexander-wallasch/11345-wofgang-muenchau-und-joschka-firscher-ueber-das-ende-des-euro, aber auch auf theeuropean.de schlagen sich wackere Eurofighter nächtens die Zahlen um die Ohren, um uns am frühen Morgen mit aktualisierten Faktenchecks zu versorgen. Und wer sich bis dahin noch im „Aber Deutschland geht’s doch gut“-Gestus gefällt, dem wird dann auch diese Illusion rasch genommen: Der Rest Europas hat uns bereits an den Eiern. In Münchaus Anstandsdeutsch klingt das so: "„Die Situation für Deutschland ist ziemlich verzweifelt. Es gibt jetzt keinen rationalen Weg mehr aus der Krise, der mit den offiziellen Verlautbarungen über die hehren Prinzipien der europäischen Geldpolitik und der Haushaltsregeln vereinbar wäre.“":http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/deutschland-ist-durch-angela-merkels-politik-erpressbar-geworden-a-852708.html

Mischung aus Straßenstrich und Lady Gaga
Lohnt sich da überhaupt noch, das emotionale Befinden in Deutschland abzufragen? Die gefühlte Wahrheit? Ich glaube ja: Dieses untrügliche Bauchgefühl auf den deutschen Straßen lohnt sich, vorausgesetzt man hat ein dickes Fell und neigt nicht zu Depressionen. Denn die könnten sich schnell einstellen, schaut man mal, wie es den Menschen geht, die diesen ominösen Motor Europas angeblich noch so tapfer am Laufen halten. Freitag, später Nachmittag in einer beliebigen deutschen Viertelmillion-Innenstadt. An den Straßenbahn- und Busknotenpunkten jene Menschen, an deren Leistungsbereitschaft nun also die Hoffnung Europas hängt. Der Rest des Kontinents hat ja schon kapituliert und schaut nun bange über die Alpen und bald auch über den Rhein. Aber kaum vorstellbar, dass man von dort aus etwas anders sehen könnte, als das, was es dort tatsächlich zu sehen gibt: Fälle ernst zu nehmender Adipositas und Lethargie in Vollversammlung vor dem fünften oder sechsten Backshop auf nur einem Kilometer. Backshop, das ist diese unterste und preiswerteste Kaste mehlverarbeitender Verköstigung. Der Döner nebenan flaggt komplett auf in den Vereinsfarben des örtlichen Fußballvereins und die Stadtverwaltung gegenüber hat schon seit 12.30 Uhr die Jalousien runter. Jugendliche spielen sich via Handy gegenseitig modernes deutsches Liedgut vor, dessen Sänger sich nach kurzem Hinhören nach „Beischlaf mit 60 kg Hackfleisch“ sehnt oder einem „Jan Pillemann Otze Arsch“ huldigt. Die Songtexte werden wie im Schlaf mitgesungen. Die Jungs sehen aus wie kleine Nutella-Zuhälter und die Mädchen wie eine Mischung aus Straßenstrich und Lady Gaga, falls es da einen ernst zu nehmenden Unterschied gäbe. Von Arbeitern und Angestellten keine Spur. Würde nicht wenigstens der Text des Mickie-Krause-Songs auf die deutsche Herkunft verweisen, den Menschen hier sieht man es nicht im selben Maße an wie den Griechen ihr Griechischsein oder den Schweden ihre schwedische Herkunft. Der unauffällige Blick in die Gesichter – eine große Sedierung. Und da liegt auch der große Denkfehler dieses vom Saulus zum komischen Paulus konvertierten Thilo Sarrazins verborgen, denn die, die am ehesten noch die Kraft aufbringen, zornig zu sein, und die diesen Zorn möglicherweise mal kollektiv in Schaffenskraft verwandeln könnten, sind die Enttäuschten, die um ihre Vorbilder Betrogenen; Typen, die man auch auf dem Tahir-Platz oder der Inkilap Caddesi im Herzen von Izmir antreffen könnte. Und wenn man dann doch jemanden entdeckt, der an die Deutschen vor den Deutschen erinnert, an so einen, wie es ihn manchmal noch in alten Filmen der 1960er-Jahre zu sehen gab, dann macht der hier einen noch degenerierteren Eindruck als auf aktuelleren deutschdenunziatorischen Ballermann-Stern-TV-Filmchen.
Wut braucht Stolz
Mülltaucher mit Gehilfen oder schon mit Gehhilfen stochern vom Rest der Meute unbeeindruckt in den mehrfach abgefackelten und schon wieder neu zugemüllten städtischen Hängemülleimern und man fragt sich ernsthaft, was die da noch Verwertbares rausklauben. Aber um wieder zum Ausgangspunkt, dem Ergebnis dieses emotionalen Faktenchecks, zurückzukommen, und bevor man in eine der Straßenbahnen steigt, um sich die finale Dröhnung „Goodbye Deutschland“ abzuholen: Wenn das hier beim genaueren Hinschauen der Motor Europas sein soll, dann ist schon alles aus. Es muss also Inseln des Wohlstandes, des Anstandes und des Fleißes geben, auf denen seltsame Alien-Übermenschendeutsche leben und noch schaffen. Nur wo soll das bitte schön sein? Ist es am Ende doch bald so, dass allein die außereuropäischen Dependancen der großen deutschen Unternehmen noch einen Scheinwohlstand einfahren, also in einem gigantischen Akt eines verschleierten Wirtschaftsimperialismus das Bild von Deutschland so in eine positive Schieflage gebracht haben, wo schon längst schon alles im Jan-Pillemann-Otze-Arsch ist? Die Fahrt durch diese äußerste innerstädtische Betrübnis verstärkt noch einmal das Bild. Ja, ich bin fest davon überzeugt, eine Fahrt in der Straßenbahn sagt mehr über den Ist-Zustand Deutschlands als ein konzentrierter Blick auf den DAX. Auch das "große Versäumnis der Linken":http://theeuropean.de/debatte/1777-die-linke-im-neuen-jahrzehnt wird hier umstandslos klar: Nicht irgendwelchen ominösen Arbeitern und Angestellten muss das Liebesmühen im 21. Jahrhunderten gelten, sondern diesen zwischen Hatz-4 und Heimatlosigkeit gefangenen Kulturberaubten. Aus einem großen Nichts-mehr-Dürfen ist ein adipöses Nicht-mehr-Können und dann ein resigniertes Nicht-mehr-Wollen geworden. Die Wut des Arbeiters braucht Stolz und Kraft aus geleisteter Arbeit und nicht das schlechte Gewissen staatlicher Almosen. Die laute Stimme des Protestes braucht den Widerhall einer noch am gemeinsamen Schaffen interessierten Gemeinschaft und nicht die Aufregung über den nicht funktionierenden 99-Cent-Latte-Macchiato-Automaten im Backshop – das hier ist alles nichts.
Deutschland in Endzeitstimmung
Und das hat auch alles nichts mehr mit einem Deutschland zu tun, das in Geberlaune ist. Denen hier wurde schon alles genommen, da ist jeder bewegte Cent automatisch ein genommener. Die hagere 20-Jährige mit den drei farbigen Kleinkindern ist schon ohne Arbeit völlig überfordert vom orientalischen Dauersingsang ihres Handys. Überfordert von ihrer Realität in diesem surrealen Deutschland in Endzeitstimmung. Wie alt will sie unter den Umständen freiwillig werden? Wann gibt der Körper den Geist wohl endgültig auf? Das alte Ehepaar eine Bank weiter erzählt stolz vom 67-ten Hochzeitstag und dass man noch kuscheln würde. Die Alte schaut rüber zu den plärrenden Kindern und sieht da lächelnd etwas, was selbst die Mutter nicht mehr erkennen würde. Aber der Alte hat sich schon weggedreht und der Schnee hatte ihn und seine Jungs erst vor Moskau zum Stoppen gebracht. Der muss ja schon mindestens einhundertzwanzig sein, aber nein, es rechnet sich noch. Und seine Rente wäre ja auch in Ordnung, er war nur sechs Wochen in Kriegsgefangenschaft, sein Bäckerberuf hätte ihn früher nach Hause gebracht, die anderen mussten noch Frankreich aufräumen. Da tätschelt ihm die Alte freundlich das Bein und sagt in die Runde lächelnd: „Nun sei doch mal stille. Lass doch die Kinder mal.“ Also doch noch positive Emotionen im armen Deutschland? Armes Europa, wenn es darauf hoffen soll. Da darf man nun regungslos und wehrlos abwarten, was passiert, wenn die Unternehmen sich offen dazu bekennen, dass sie nicht nur ihre Produkte großteils im Ausland verhökern, sondern nun bald auch die komplette Produktion dorthin verlagern, denn auch die Fachkräfte sind da ja schon längst in der Überzahl.
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