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> Deutsche Willkommenskultur

Offene Grenzen oder generöser Sozialstaat: Beides geht nicht?!

Der nach wie vor anhaltende Flüchtlingszustrom nach Europa hat den Kontinent in zwei entgegengesetzte Lager gespalten. Der Graben zwischen beiden Lagern verläuft allerdings mitnichten in Ost-West-Richtung. Auch England, Norwegen und Dänemark haben sich der »deutschen Willkommenskultur« komplett verweigert. Muss derjenige, der einlädt auch die Rechnung übernehmen? Bernd Raffelhüschen mit Antworten:

The European

Die im deutschen Alleingang beschlossene und mit den europäischen Partnern nicht abgesprochene Aussetzung des Dublin-Abkommens durch die Bundesregierung im Jahr 2015 kann nicht durch ein Pochen auf eine »ab jetzt« gemeinsame europäische Lösung übertüncht werden. Hinsichtlich der primären Zuwanderung nach Süd- bzw. Südosteuropa vermag der deutsche Hinweis auf eine gerechte Verteilung der Flüchtlingsströme nach abgeschlossenen Asylverfahren im Erstaufnahmeland nicht zu überzeugen, denn verständlicherweise glaubt man den resteuropäischen Solidaritätsbekundungen schlicht nicht mehr. Die Debatte um die gerechte Verteilung der Zuwanderer innerhalb Europas ist ohnehin an Absurdität kaum zu übertreffen. Schließlich gelingt es nicht einmal innerhalb Deutschlands die Ströme einigermaßen gleichmäßig auf die Bundesländer zu verteilen. Noch scheinheiliger erscheint die deutsche Position hinsichtlich der sekundären Wanderungsbewegung: Warum sollte ein Land wie Dänemark die aus Schweden nach Deutschland laufende Sekundärmigration unterbinden und damit die Kosten der deutschen Einladung übernehmen? Auch Österreich will die Rückführung der Migranten aus Deutschland in die Erstaufnahmeländer nicht unterstützen und verweist darauf, dass es keinen umgekehrten Dominoeffekt Richtung Ost- und Südeuropa geben kann, solange nicht die Summe der bilateralen Abkommen zur Rückführung quasi die europäische Einigung ersetzen würde. Will heißen: Das Dublin-Abkommen wird nicht umgesetzt, an den europäischen Außengrenzen gibt es keine wirksame Grenzkontrolle und das deutsche Recht wird an den Grenzen zu den Nachbarstaaten auch nicht, bzw. seit dem Vorstoß von Innenminister Horst Seehofer nur extrem zögerlich, angewandt. Verfahrener kann eine Situation kaum sein, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass das endlose Debattieren der etablierten Parteien den Riss, der durch die Gesellschaften (fast) aller europäischen Länder geht, immer weiter aufreißt und dem rechten wie auch linken Populismus Tür und Tor geöffnet wird. Nach außen kann die deutsche Position ganz offensichtlich nicht überzeugen und auch der Hinweis auf eine besondere historische Verantwortung Deutschlands ist angesichts der europäischen Dimension des Problems ein eher zu vernachlässigender Punkt. Wie aber steht es mit der Rationalität der deutschen Zuwanderungspolitik nach innen hin. Können die jungen und im Allgemeinen arbeitswilligen Zuwanderer eine fiskalische Dividende erwirtschaften, die die Tragfähigkeit des deutschen Sozialstaats angesichts der drastischen Alterungseffekte unserer Gesellschaft stabilisiert? Die Antwort auf diese Frage ist schlicht und lautet: Nein, denn das ohnehin existierende Nachhaltigkeitsproblem des deutschen Sozialstaats wird durch die Zuwanderung vergrößert. Wie stark das Problem verschärft wird, soll im Folgenden unter Zuhilfenahme der aktuellen Generationenbilanz illustriert werden.

Das Nachhaltigkeitsproblem des deutschen Sozialstaats
Bevor allerdings die fiktive Analyse des Sozialstaats mit und ohne Zuwanderungswelle 2015–2017 adressiert wird, muss zunächst geklärt werden, was genau unter Nachhaltigkeit verstanden werden soll und wie groß der Abstand vom Zustand der Nachhaltigkeit gegenwärtig ist. Ein Staatshaushalt gilt immer dann als nachhaltig, wenn die Summe aus den expliziten und impliziten Schulden des Staates gleich null ist. Das bedeutet, dass man die herrschende Fiskal- und Sozialpolitik »bis in alle Ewigkeit« fortführen kann. Unter den expliziten Schulden werden alle verbrieften Forderungen an den Fiskus im jeweils aktuellen Basisjahr subsumiert. Die unsichtbaren Lasten oder impliziten Schulden ergeben sich aus jenen zukünftigen Leistungsversprechen des Staates, für die er unter herrschenden Steuer- und/oder Beitragssätzen keine oder keine ausreichenden Rückstellungen gebildet hat. Gemäß der vorherrschenden Kameralistik befindet sich das staatliche Haushaltswesen nämlich auf einer Stufe mit dem sogenannten Minderkaufmann (Neudeutsch: Kaufmann mit geringfügigen Umsätzen) der einfach nur eine Gegenüberstellung der jährlichen Ein- und Auszahlungen dokumentiert. Der bilanzierende, ehrbare Kaufmann würde für alle Leistungsversprechungen, die er für die Zukunft versprochen hat, Rückstellungen bilden. Mehr noch, der Gesetzgeber verpflichtet ihn dazu, diese in geeigneter Weise zu bilden. Tut er dies nicht, so droht ihm die Insolvenz wegen des Tatbestands der Überschuldung, eben weil fehlende Rückstellungen versteckte Schulden darstellen. Bei staatlichen Haushalten liegt der Fall anders. Denn der Fiskus befolgt einmal wieder nicht die Regeln, die er für andere aufstellt, sondern »bilanziert quasi wie eine Frittenbude« und versteckt durch die fehlenden Rückstellungen Schuldenlasten, die dann von zukünftigen Steuer- und/oder Beitragszahlern zu bedienen sind. Woraus genau die versteckte Staatsschuld resultiert, ist einfach zu erklären und längst gymnasialer Unterrichtsstoff geworden: Aufgrund der Tatsache, dass sich die geburtenstarken Jahrgänge hinsichtlich ihrer Fertilität nicht besonders viel Mühe gemacht haben, fehlt in der mittleren und fernen Zukunft einfach die Basis der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme. Gleichzeitig halten sich diese geburtenstarken Jahrgänge mit »konstanter Boshaftigkeit« am Leben. Durch die niedrige Fertilität gepaart mit steigender Lebenserwartung ergibt sich der doppelte Alterungsprozess, der zu einer Verdopplung des Altenquotienten und zu einer pilzförmigen Bevölkerungsstruktur im Jahr 2040 führt (vgl. Abb. 1). Die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Pilzstruktur liegt bei annähernd 100%, denn alle zukünftigen Erwerbspersonen wie auch alle zukünftigen Rentner sind mitnichten zukünftig; sie sind alle schon geboren – manche in fremden Ländern. Da diese Pilzstruktur des Jahres 2040 also sozusagen mit Sicherheit eintritt, kann die entsprechende zukünftige Bevölkerungsstruktur nicht wirklich als zukünftig interpretiert werden. Denn wäre sie zukünftig, müsste sie ja unsicher sein, eben weil Zukunft ihrem Wesen nach unsicher ist. Die logische Schlussfolgerung: Das was im Allgemeinen in Medien und Politik für etwas gehalten wird, was unsicher ist, weil es noch kommt, das kommt gar nicht, das ist schon gewesen, obwohl es noch kommt! Die Messe ist also bereits gelesen, und im Ergebnis werden zunehmend mehr Ältere – die immer älter werden – wachsende Teile des durch immer weniger Erwerbspersonen erwirtschafteten Inlandsprodukts beanspruchen. Erst ab 2060 stabilisiert sich der Altenquotient, und die Bevölkerungsstruktur geht in die sogenannte »Urnenform« über (vgl. Abb. 1). Auch dieses Phänomen ist einfach zu erklären, denn nun werden die wenigen Kinder der geburtenstarken Jahrgänge von den wenigen Enkeln versorgt. Zwar ist die gegenwärtige Situation deutlich komfortabler, weil unser Land noch nie so viele Beitragszahler hatte, die so wenig Alte zu versorgen hatten. Aber für die Übergangszeit sieht es wohl deutlich schlechter aus: Noch nie mussten so wenige für so viele und auch noch so lange sorgen. Dennoch verschwindet das Alterungsproblem damit, dass die geburtenstarken Jahrgänge nicht mehr Teil der »Bevölkerungsurne« der Jahre nach 2060, sondern Inhalt einer ganz anderen Urne sind. Diese Tatsache führt unmittelbar zu einer Schlussfolgerung, die jenen Teilen der geburtenstarken Jahrgänge nicht sonderlich schmecken wird, die im doppelten Alterungsprozess immer nur ein auf sie zukommendes Problem sehen. Tatsächlich haben jene nämlich kein Problem, vielmehr sind sie das Problem – und zwar für ihre Kinder. Darüber hinaus sind die geburtenstarken Jahrgänge nicht nur das Problem, sondern sie sind Problem und zugleich Verursacher desselbigen – und zwar durch (fertile) Unterlassung. Einschränkend muss natürlich konstatiert werden, dass dies alles nur für den statistischen Durchschnitt gilt und nicht auf einzelne Personen bzw. deren Schicksal abzielt. Im Ergebnis hätte der deutsche Sozialstaat also mit Leistungsversprechen an die geburtenstarken Jahrgänge etwas vorsichtiger umgehen sollen. Welche Rücklagen wären aber für die Sicherung des Sozialstaates notwendig gewesen, wenn die durch den »deutschen Willkommensgruß« des Herbstes 2015 induzierte Zuwanderungswelle ausgeblieben wäre? Abbildung 2 dokumentiert die Nachhaltigkeitslücken für dieses hypothetische Referenzszenario. Um beispielsweise die bereits zugesicherten Leistungsversprechen in der gesetzlichen Rentenversicherung bei dauerhaft konstantem Beitragssatz nachhaltig sichern zu können, wären demnach Rücklagen in Höhe von 128,3% des Bruttoinlandsprodukts notwendig. Etwas besser ergeht es der gesetzlichen Kranken- bzw. der sozialen Pflegeversicherung, deren Nachhaltigkeitslücken sich auf 75,1% bzw. 33,9% des BIP aufsummieren. Dies gilt allerdings nur für den »unrealistisch optimistischen« Fall, dass die Preise im Gesundheitswesen der allgemeinen Preisentwicklung folgen, wir also keinen Kostendruck aufgrund des technischen Fortschritts im medizinischen Bereich erwarten. Mit der Beteiligung aller Menschen an allen medizinischen Errungenschaften der Zukunft sähe das Bild deutlich dramatischer aus. Den Nachhaltigkeitslücken der parafiskalischen Sozialversicherungen von insgesamt 232,9% des BIP stehen implizite Vermögen der Gebietskörperschaften in Höhe von 83,5% des BIP gegenüber. Mit anderen Worten übertrifft der Barwert aller zukünftigen Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden die zukünftigen Ausgaben dieser Institutionen, so dass trotz der eingegangenen Beamten Versorgungslasten Quersubventionen an das Sozialversicherungssystem möglich werden. Dennoch belaufen sich die impliziten Schulden in Deutschland alles in allem auf fast 1,5 Bruttoinlandsprodukte (vgl. Abb. 2) und ergeben zusammen mit den expliziten Staatsschulden eine Nachhaltigkeitslücke des Gesamtstaates von über zwei Inlandsprodukten. Die sichtbare Staatsverschuldung verhält sich also in Relation zur unsichtbaren fast wie ein Eisberg – ein gutes Viertel kann man sehen, der Rest bleibt unter Wasser; wobei auch dem maritim nicht so Bewanderten klar sein sollte, dass Eisberge einem Schiff eher mit jenen Teilen gefährlich werden, die sich unsichtbar unter der Wasserlinie befinden. Bleibt festzuhalten, dass der deutsche Sozialstaat in der heute ausgestalteten Generosität angesichts der demographischen Probleme nicht nachhaltig finanzierbar ist. Will man das derzeitige Leistungsniveau in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung halten, müssten zukünftige Beitragszahler willens sein, fast zwei Drittel ihres Einkommens an Sozialabgaben und das restliche Drittel an Steuern abzuführen. Das hieraus resultierende Akzeptanzproblem zukünftiger Generationen mit den bestehenden Generationenverträgen ist nur zu offensichtlich. Will man zukünftigen Generationen dieses Dilemma ersparen, so bleibt nur der Weg der intergenerativen Gleichbehandlung durch eingefrorene Beitragssätze bei endogener Anpassung des Leistungsniveaus. Dieser Weg, der mit den Rentenreformen der Agenda 2010 bereits unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder erstmals beschritten wurde, ist zugleich generationen- und verursachergerecht. Denn die Beitragszahler der Zukunft sind nicht verantwortlich für die Anzahl der älteren Leistungsempfänger, wohingegen die geburtenstarken Jahrgänge sehr wohl verantwortlich sind für die geringe Anzahl der Beitragszahler. Korrigieren können sie hieran allerdings nichts mehr, und deshalb muss die Botschaft an den Verursacher ganz eindeutig sein: Die geburtenstarken Jahrgänge werden für ein geringeres Rentenniveau länger arbeiten müssen – das haben sie sich selbst so verdient. Lesen Sie den vollständigen Artikel hier: "CESifo":https://www.cesifo-group.de/DocDL/sd-2018-18-chiemsee-konferenz-raffelhueschen.pdf
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