Tyrannei des Geistes
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Die politische Haltung vieler Intellektueller im 20. Jahrhundert zeigt: Brillanz schützt vor Torheit nicht. Gegen die autoritäre Versuchung war ihr ganzer Geist machtlos. Der Philosoph Mark Lilla geht der Verwandtschaft von Kopfarbeit und Tyrannis auf den Grund.

(Rechts-)Populismus ist derzeit sehr erfolgreich. Unter Gebildeten und Halbgebildete aber genießt er kein hohes Ansehen. Sie finden ihn primitiv und platt, halten ihm vor, er sei plebiszitär und autoritär zugleich, biete „einfache Lösungen“ für „komplexe Fragen“ an, beschwöre ein Volk, entwerfe klare, verkürzte Feindbilder und setze auf Emotionen statt Vernunft. Mithin schade er der politischen Kultur. Schon werden Rufe laut, es brauche ein Engagement gegen die Enragierten. Schon rotten sich die Gralshüter der verwalteten Gegenwart zusammen und fordern mehr Geist. An diesen heften sich nämlich ihre tiefsten Hoffnungen zur Entgiftung des politischen Klimas. Sie wollen mehr Bildung, sie wollen mehr Einsicht, sie wollen mehr Verstand, nicht länger nur für sich – schließlich besitzen sie all das schon – sondern nun endlich auch für alle anderen. Die wohlüberlegte Abwägung aller Argumente erscheint ihnen als Gewähr der vernünftigen und maßvollen politischen Haltung. In einer Gesellschaft, die an Habermas glaubt und sich dem „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments verschrieben hat, ist so eine Ansicht kein Wunder. In ihr wird mit umfassender Bildung unterfütterte Geistesschärfe zum Bollwerk gegen die politische Tölpelei und den unüberlegten Exzess. Maßhalten wird zur Sache des Verstandes, weniger der Ästhetik.