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> Der Boom der Ethikräte lässt die Moral verdunsten

Experten im Blindflug

Artikel vom

Immer mehr Ethikräte nehmen uns die unangenehme Aufgabe ab, über Richtig und Falsch zu entscheiden. Mit fragwürdigen Methoden kommen sie zu noch fragwürdigeren Ergebnissen. Schluss mit den Hütchenspielertricks!

The European

Ethik ist oft nur das Geräusch, das entsteht, wenn man die Moral aus dem Weg räumt. Ethik ist das Einerseits-Andererseits, das Teils-Teils, das Abwägen, Differenzieren und Relativieren – solange, bis jedes Problem zum Problemchen, jeder Einwand zum Vorwand geworden ist. Darum ist der Boom der Ethikräte ein bedenkliches Zeichen. Die Gesellschaft entsorgt in solchen Expertengremien alles Bedenkliche, worüber selbst nachzudenken ihr Neigung oder Kompetenz fehlt. Und die professionellen Ethiker sorgen dafür, dass nichts mehr als eine Zumutung, alles aber als eine Chance erscheint. Sie schreddern Grundsatzfragen zu Verdienstmöglichkeiten. In der zurückliegenden Woche belegte diesen Zusammenhang ein "Memorandum" zum Thema Glückspillen und Hirndoping. "Sieben führende Experten" gaben im Auftrag der "Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen" und mit finanzieller Unterstützung des Bundesforschungsministeriums zu Protokoll, es sei fast nichts dabei, wenn der Mensch Pillen schlucke, um sich besser zu fühlen, um bessere Leistung zu erbringen oder um schneller sich Kompetenzen anzueignen. Die sieben Experten erwarten "tieferen Musikgenuss, größere Empathiefähigkeit oder den leichteren Erwerb von Fremdsprachen", wenn endlich flächendeckend "NEPs" verabreicht werden, "Neuro-Enhancement-Präparate". Die chemisch "gesteigerten kognitiven und emotionalen Kompetenzen" könnten "das Leben vieler Menschen besser machen".

Ein alter Trick
Risiken, etwa sozialer Druck oder Abhängigkeiten, werden referiert, aber sogleich minimiert. Der Trick ist alt: Man weist auf eine bestehende Praxis hin, verschweigt deren problematischen Charakter, folgert aber aus der bloßen Existenz, eine Weiterung auf vergleichbare Fälle könne man nicht prinzipiell ablehnen. Allen Ernstes soll der gedopte Leistungssportler herhalten, um eine "weite und großzügig subventionierte Verbreitung von NEPs" anzuregen, bis hin zur besonderen "Subvention von NEPs für Einkommensschwache" – als sei Doping im Sport ein allgemein akzeptiertes Verhalten. Und als sei mit der launigen Bemerkung, "gedopte Spitzensportler zeigen nicht weniger Fleiß und Willensstärke als ‚saubere’ Athleten", das Entscheidende am Doping umrissen. Aus dem bloßen Sein einer Ausnahme (der Körper wird gedopt) folgt der Appell zum analogen Verhalten (es soll das Hirn gedopt werden dürfen). An solchen rhetorischen Hütchenspielertricks erfreuen sich die sieben Experten, darunter drei Professoren. Ähnlich instrumentalisiert werden die Verkehrstoten. Der Autoverkehr, lesen wir, gelte trotz seiner zahlreichen Opfer als "erlaubtes Risiko", ergo dürfe niemand prinzipiell daran gehindert werden, ein "sozialadäquates" Risiko durch die Einnahme von Medikamenten zur Leistungssteigerung oder zur Stressreduktion oder zur Gefühlsintensivierung einzugehen. Dass der mögliche Startvorteil im Konkurrenzkampf – der natürlich bei einem staatlich geförderten Einsatz der Psychopharmaka sich schnell aufhöbe – mit Persönlichkeitsveränderung einherginge, dass der Mensch vollends zur auf Effektivität getrimmten Maschine würde, wenn Arbeit am Geist zum Auslaufmodell verkäme für Nostalgiker, dass die Kindheit ein Trainingslager wäre für Ellenbogenexistenzen, sobald Minderjährige das "positive Potenzial von Neuro-Enhancement" nutzen könnten: diese Nebenwirkungen werden als irrelevant verworfen. Die sieben Experten wollen sich nicht aufhalten lassen bei ihrem Marsch ins pharmakologische Wunderland.
Erst ausprobieren, dann nachdenken
Desaströs ist der Gedanke, nur "hinreichende empirische Belege für eine nachteilige Entwicklung der Gesellschaft" könnten Anwendungsverbote legitimieren. Im Klartext heißt das: Erst ausprobieren, dann nachdenken. Deutschland soll zum Freilandversuchslabor werden. Denn natürlich lägen die geforderten "empirischen Belege" erst dann vor, wenn hinreichend viele Menschen das chemische Tuning von Hirn und Seele an sich vollzogen hätten. Übernehmen die sieben Experten hierfür die Verantwortung? Ausdrücklich die Gesunden hat das "Memorandum" im Blick. Nicht heilen oder lindern soll der Arzt, sondern das Leben nach einem individuell zu vereinbarenden Leistungskatalog verbessern. Schon kursiert der Ausdruck von der "Schönheitschirurgie für die Seele". Für derart massive Eingriffe aber ist das Optimieren die falsche Kategorie. Verbesserung im Sinne eines Mehr ist eine quantitative, keine qualitative Größe. Das meint auf Deutsch: Gut sollen all jene Ziele sein, die einen beliebigen messbaren Anfangszustand auf ein höheres Level treiben. Horst Schlämmer ist somit der heimliche Autor dieses "Memorandums" – "es muss von allem mehr sein", lautet das Motto der Kunstfigur aus Grevenbroich. Wenn die sieben Autoren "keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche" entdecken, sondern darin "die Fortsetzung eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mitteln" sehen, dann zeichnen sie vom Menschen ein hoffnungslos unrealistisches Bild. Nicht jedermann, nicht jede Frau ist zeit des Lebens auf der Höhe ihrer oder seiner Entscheidungskraft. Nicht alle Menschen entscheiden vernünftig, ungetrübt von Nöten, Leidenschaften, Traurigkeiten. Wenn der Staat wirklich seine Bürger zum erhöhten Pillenkonsum ermuntert, werden auch jene zugreifen, die es letztlich nicht verantworten können. Wie so oft ist auch hier die blasse Formel vom selbstverantwortlichen Individuum, eine Chiffre für das Desinteresse am Nächsten. Nicht alle Profi-Ethiker jubilieren über Drogen als "gezielte Leistungs- und Kreativitätsverstärker". Wohl aber sind die allermeisten gefangen im selben Geflecht aus Intellektuellenstolz und Zahlenwahn. Von den sieben Autoren gehören mit Bettina Schöne-Seifert und Reinhard Merkel zwei dem "Nationalen Ethikrat" an, zwei weitere haben an dessen Veranstaltungen mitgewirkt. Sie alle empfehlen sich durch das "Memorandum" für eine Lobbyarbeit bei den forschenden Pharmaunternehmen – wahrlich keine ehrabschneidende Betätigung. Aus dem "Nationalen Ethikrat" aber sollten sie sich zurückziehen.
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