Herrschaft ohne Herrscher
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In den Protestbewegungen der Gegenwart liegen die Wurzeln für ein neues Verständnis von Demokratie. Die Menschen werden nicht länger die Macht an Politiker abgeben. Sie regieren sich lieber selbst.

In 100 Jahren wird die demokratische Gesellschaft nicht mehr von Volksvertretern regiert werden, sondern durch ein System offener, partizipativer und universaler Selbstbestimmung. Ich sehne mich nach einer Welt, in der wir uns kollektiv und herrschaftsfrei selbst regieren, auf lokaler Ebene genauso wie in globalen Fragen. Ich sehe die Ursprünge dieser Sehnsucht und das Verlangen nach demokratischen Experimenten in den sozialen Bewegungen von heute: Utopische Projektionen sind immer stärker von der Gegenwart beeinflusst als auf die Zukunft fixiert. Sie nehmen unsere existierenden Wahrnehmungen und Sehnsüchte ernst – selbst wenn diese momentan nur latent sichtbar sein mögen – und kultivieren sie auf visionärer Ebene. Das Verlangen nach mehr Demokratie ist "spätestens seit dem Arabischen Frühling":http://www.theeuropean.de/debatte/5613-demokratisierung-im-nahen-osten wieder in aller Munde. In den darauffolgenden Monaten ist die Fackel des demokratischen Wandels in Protestcamps auf der ganzen Welt vielfach neu entzündet worden. Repräsentative Politik und Wahlen – die, so hören wir allzu oft, angeblich die Grundlagen unserer Demokratie bilden – "scheinen für viele Menschen keine ausreichenden Antworten zu liefern.":http://www.theeuropean.de/michael-hardt/9190-herausforderung-globalisierung Das ist vielleicht die wichtigste Lektion des letzten Jahres (und die wichtigste politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte): die Bejahung der Demokratie in Abgrenzung zur repräsentativen Politik. „Ihr vertretet uns nicht“, "riefen die Demonstranten in Madrid und Barcelona":http://www.theeuropean.de/debatte/6953-proteste-in-spanien-2 und meinten damit nicht nur einen einzelnen korrupten Politiker oder eine Partei, sondern die Idee repräsentativen Regierens. "Die Occupy-Bewegung":http://www.theeuropean.de/priyamvada-gopal/8794-der-erfolg-der-occupy-bewegung kampierte nicht nur gegen die „Weiter so!“-Politik von Parteien und Parlamenten, sondern verweigerte sich auch intern der Herausbildung hierarchischer Führungsstrukturen. Objekt der Kritik war auch in diesem Fall nicht bloß das durch Geld, Macht und Medien korrumpierte System der Volksvertreter, sondern die grundsätzliche Idee einer auf Fürsprechern fußenden Demokratie.