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> Das Internet als Kettensprenger

In Lohn und Brot und Netz

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Das Internet mag neue Arbeitsformen ermöglichen – doch bestehende Hierarchien lähmen das Potential, die Arbeitswelt zu revolutionieren. Innovation wird zunehmend durch Illusion ersetzt.

The European

„The world is flat“ – so fasste "Thomas L. Friedman":http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_L._Friedman seine These zusammen, dass durch Informations- und Kommunikationstechnologien Machtungleichgewichte beseitigt würden: zwischen Weltregionen, die leichter als Investitionsstandorte konkurrieren könnten, aber auch zwischen Arbeit und Kapital.

Ein Raum mit vielen Möglichkeiten
Gerade das Internet gilt gemeinhin als Kettensprenger – sei es im "„arabischen Frühling“":http://www.theeuropean.de/firas-al-atraqchi/5657-revolutionskatalysator-twitter, im Berliner Parteiensystem oder in Bezug auf „Arbeit am Netz“. Wer das Internet hat, braucht keine Organisation mehr, so die frohe grundliberale Botschaft. Aus arbeitssoziologischer Sicht sind jedoch Zweifel angebracht. Zwar trifft es zu, dass Technik soziale (Macht)Verhältnisse am Arbeitsplatz prägt – nicht umsonst entstanden Arbeiter und Gewerkschaftsbewegung im Zeitalter der „großen Maschinen“, weil die massenhafte Zunahme standardisierter Arbeitsbedingungen die Organisierung von Beschäftigten erleichterte. Doch der Umkehrschluss (individualisierte Web-Arbeit = machtvolle individuelle Interessenvertretung) greift offenkundig zu kurz. Die technologische Innovation „Internet“ eröffnet lediglich einen Möglichkeitsraum: So kann man (technologisch betrachtet) in webbasierten Tätigkeiten leichter Telearbeit leisten oder Arbeitszeiten freier gestalten als in vielen anderen Industrie- oder Servicejobs. Doch welche Konditionen tatsächlich gelten, entscheidet sich nicht im (angeblich herrschaftsfreien) Netz, sondern in der betrieblichen "Herrschaftskonstellation vor Ort":http://www.theeuropean.de/debatte/2087-die-prekarisierung-der-arbeitswelt. Internet-Startups waren cool und egalitär, solange die Branche boomte und die Nerds bei Coke und Pizza Nächte durcharbeiteten. Sobald die Dotcom-Blase jedoch platzte und zahlreiche Arbeitsplätze vernichtet waren, wurden in jenen Firmen, die übrig blieben, neue Hierarchieebenen eingezogen, Arbeitszeiten an Kundenwünsche angepasst und mancherorts kurz vor Konkurs Betriebsräte gegründet. Auch in transnationalen IT-Konzernen schafft das Internet technische Möglichkeiten für hierarchiefreie Kooperation: Immerhin arbeiten Kolleg/innen etwa in Deutschland und Indien webbasiert direkt in virtuellen Teams zusammen. Dies ändert jedoch wenig an der Führungsrolle deutscher Teamteile, und die engmaschige Kontrolle indischer Arbeitskraft führt teilweise dazu, dass nur Deutsche, nicht aber Inder Arbeit mit nach Hause nehmen dürfen. Ausschlaggebend für konkrete Arbeitsbedingungen ist also auch hier nicht die technische Vernetzung, sondern die Macht von Individuum und „Standort“ im Unternehmen.
Internet kann Organisation weder schaffen noch ersetzen
Weil das Internet jedoch inzwischen (fast) allgegenwärtig ist, taugt es immer weniger als Instrument, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. Vielmehr kommen „alte“ Machtungleichgewichte selbst in „neuen Branchen“ verstärkt zur Geltung: Hochqualifizierte (meist männliche) Programmierer in Europa haben gänzlich andere Verhandlungsmacht als (oft weibliche) Callcenter-Agenten in Indien. Die Hoffnung auf das Internet als Kettensprenger wirkt sogar lähmend, wenn sie die Illusion nährt, sich individuell in einem hierarchiefreien Raum zu bewegen. Das Internet kann Organisierung weder schaffen noch ersetzen, doch es mag wiederum Möglichkeitsräume eröffnen: für den direkten Austausch zwischen Arbeitenden in verschiedenen Weltregionen, für eine kritische Verständigung darüber, was "gute Arbeit" ausmacht und was ihr im Wege steht, und nicht zuletzt: für internationale Solidarität.
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