„Es ist positiver Rassismus“
Mit seinem Projekt „Before They Pass Away“ hat der Fotograf Jimmy Nelson den letzten indigenen Volksstämmen ein Denkmal gesetzt. Mit Max Tholl sprach er über falsche Vorstellungen von Primitivität, Verletzbarkeit als Kommunikationsmittel und Freude durch heruntergelassene Hosen.

*The European: Herr Nelson, Sie haben Volksstämme fernab jeglicher Zivilisation besucht und fotografisch in Ihrem Projekt „Before They Pass Away“ festgehalten. Noch sterben die Eingeborenen jedoch nicht aus ...* Nelson: Zugegeben ist der Titel etwas pathetisch und daher irreführend. Zunächst wollte ich das Projekt „Painted Lives“ nennen, aber so ein Titel kommt eben nicht an. Mit dem jetzigen, kontroverseren Titel, änderte sich das schlagartig. Auf einmal interessierten die Leute sich für das Projekt. Sie haben aber vollkommen recht: Niemand stirbt – aber ein Teil dieser Stämme stirbt eben doch. *The European: Wie meinen Sie das?* Nelson: Kulturen entwickeln sich ständig weiter. Die Digitalisierung und der Informationsüberfluss haben diese Entwicklungen über die letzten Jahrzehnte jedoch extrem beschleunigt. Unsere Kultur erreicht mittlerweile selbst Eingeborene in den entlegensten Erdteilen. Und dann müssen die sich entscheiden: Passen sie sich an und legen damit ihre eigene Kultur ab oder ignorieren sie diesen modernen Lebensstil einfach. Das Problem ist, dass solche Volksstämme unser Aussehen und unsere Lebensart als Zeichen für Reichtum deuten – das ist es aber nicht! *The European: Aus materialistischer Sicht schon.* Nelson: Nehmen Sie beispielsweise Amerika: Das Land ist gleichzeitig die überentwickeltste und ärmste Nation der Welt – nicht wirtschaftlich, sondern kulturell. Ursprünglich war Amerika die Heimat der schönsten und faszinierendsten Volksstämme aller Zeiten: der Indianer. Als der amerikanische Fotograf Edward Curtis sie porträtierte, wurde seine Arbeit verspottet und als Schwachsinn abgetan. Heutzutage fristen viele Indianer ihr Dasein am Rande der Gesellschaft, sind arbeitslos, verarmt, alkoholabhängig. Daher haben die Amerikaner den Eindruck, sie wären „geschichtslos“ oder hätten keine richtigen Wurzeln. Dabei hatten sie so viel kulturellen und geschichtlichen Reichtum. Natürlich ist das sehr schwarz-weiß und ich bin etwas melodramatisch, aber dieses Beispiel zeigt, wie sehr wir eine kulturelle Verwurzelung brauchen. Die Eingeborenen, die ich besucht habe, sind sich dessen sehr bewusst. *The European: Die Stämme besitzen nicht viele materielle Güter, aber viel kulturellen Reichtum.* Nelson: Genau. Sie haben etwas, das wir im Westen schon lange verloren haben: eine menschliche Ausgeglichenheit. Sie leben im Einklang mit sich selbst, ihren Körpern, ihrer Gemeinschaft und der Umwelt. Das ist eine Form des Reichtums, die sich stark von unserem Konsum-Reichtum unterscheidet. Das Verhältnis dieser beiden Arten von Reichtum sollte ausgeglichener sein. Diesen Gedanken den Menschen zu vermitteln, war eines der wichtigsten Ziele meines Projekts.