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> Böckenförde und der freiheitliche Staat

Demokratie entsteht nicht ohne Kampf

Ist Obrigkeit eine platonische Größe? Lebt der Staat von der Tradition des Kampfes gegen Autoritäten und Obrigkeiten oder ist Obrigkeit in der Demokratie nur geliehen? Alan Posener und Alexander Görlach streiten über die Auslegung des freiheitlichen Staatsbegriffs von Böckenförde.

The European

*Görlach: "Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann." Das ist ja ein ganz bekanntes Zitat. Stimmen Sie dem zu?* Posener: Ja, dem stimme ich zu. Er lebt von einer Tradition des Kampfs gegen Autoritäten und Obrigkeiten, religiöse und pseudoreligiöse Fundamentalismen. Noch nirgendwo entstand eine Demokratie ohne diesen Kampf. Er lebt von der fortwährenden Bereitschaft wenigstens eines Teils der Bürger, die offene Gesellschaft zu verteidigen - etwa gegen den Missbrauch des von Ihnen zitierten Satzes durch Ideologen, die unterstellen, ausgerechnet die katholische Variante des Christentums habe jene Werte hervorgebracht, auf denen der freiheitliche Staat beruhe. *Görlach: Das verstehe ich nicht: Der Staat versteht sich immer als Obrigkeit und immer als Autorität. Wie kann er gegen sich selbst aufbegehren? Ich glaube, so interpretieren Sie das Zitat von Böckenförde falsch.*  Posener: Natürlich interpretiere ich das im Sinne Böckenfördes falsch, Alexander. Mit Absicht. Böckenförde denkt platonisch. Er glaubt, vor dem Staat seien bestimmte Ideen da. Nur weil und wenn sich die Menschen darauf einigen, diese Ideen zu akzeptieren, etwa "die Unantastbarkeit der Menschenwürde", gibt es einen "freiheitlichen Staat", was auch immer das sein soll. Ich argumentiere historisch. Die Demokratie und der Rechtsstaat sind das Produkt geschichtlicher Kämpfe. Nur weil Menschen für ihre Rechte gekämpft haben und kämpfen, respektiert die Obrigkeit diese Rechte.

"Obrigkeit" ist für mich überhaupt keine platonische Größe
*Görlach: So wie Sie argumentieren, wird die "Obrigkeit" bei Ihnen zu einer Größe im platonischen Sinne. In einer Demokratie ist "Obrigkeit" aber nur geliehen. Das können sie im Moment sehr gut sehen, wenn ehemalige SPD-Bundesminister neben ihnen bei einer Konferenz am Registrierungsschalter stehen. Gegen eine Obrigkeit, die man theoretisch selber durch Wahl erlangen kann, kämpfe ich doch nicht. Wenn Sie historisch schauen, dann müssen Sie doch zu der Erkenntnis kommen, dass unsere Staatsform aus anderen Staatsformen erwachsen ist, die wiederum auf Ideen fußten, auf denen aufbauend sich Ideen entwickelt haben, die unseren Staat heute tragen. Somit gibt es immer Ideen, die "vor dem Staat" sind.* Posener: Nein, "Obrigkeit" ist für mich überhaupt keine platonische Größe. Sie ist sehr konkret: König Johann, gegen den die englischen Barone bei Runnymede 1215 das Parlament durchsetzten; König Jakob II., der in der Glorreichen Revolution 1688 vom Parlament abgesetzt wurde; König Georg III. und das britische Parlament, die Gegner der amerikanischen Revolutionäre 1776; die Sklavenhalter der Südstaaten, gegen die sich der amerikanische Bürgerkrieg 1861 bis 1865 richtete und so weiter und so fort, bis hin zu den Tyrannen des 20. und 21. Jahrhunderts, über die im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg die Demokratien schließlich triumphierten, und zu den Unterdrückern von heute, ob in Pjöngjang, Peking, Teheran oder Kairo, die hoffentlich bald ihren Vorgängern in den Orkus folgen werden. Ich meine damit doch nicht die SPD, die älteste demokratische Partei Deutschlands! *Görlach: Gut. Dass Sie jetzt die Tyrannen der Geschichte mit SPD-Ministern, deren Legislatur gerade abgelaufen ist, vergleichen, ist Ihre Sache. Aber, wenn es so ist, wie Sie sagen, dann ist die Idee der Freiheit diejenige, die dem Menschen schon im Naturzustand - den Begriff, den ich wie in dem gleichnamigen Terminus der politischen Philosophie verstanden wissen möchte - innewohnt. Der Erhalt dieser Freiheit ist das Ziel der Vergemeinschaftung und die oberste Priorität aller staatlichen Gewalt, wenn der Gesellschaftsvertrag geschlossen wird und der Mensch aus dem Naturzustand austritt. Da sind wir also, wie mir scheint, einer Meinung. Nun zu den Werten: Freiheit ist ein Wert. Auch hier sind wir uns einig. Sie ist in ihrer ideengeschichtlichen Entwicklung ein sehr komplexer Begriff. Auffallend ist, dass gerade das Christentum mit seinem Glauben an die Freiheit des Einzelnen vor Gott sehr viel über diese Freiheit zu sagen hatte und hat.* Posener: Ach, Alexander, Sie argumentieren schon wieder platonisch: Der Mensch "tritt aus dem Naturzustand aus", der "Gesellschaftsvertrag wird geschlossen". So etwas ist historisch nie passiert, und mit solchen Mythen kann ich ebenso wenig anfangen wie mit dem Mythos von Adam und Eva oder der "Freiheit des Einzelnen vor Gott". Reden wir doch konkret! Also, ich kenne zum Beispiel Roosevelts "vier Freiheiten": Freiheit des Glaubens, Freiheit der Rede, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht; aber Freiheit vor Gott kenne ich nicht. 
Der Naturzustand ist ein pragmatischer Begriff, kein dogmatischer
*Görlach: Es geht nicht darum, ob Sie die Vorstellung von der Bedeutung des Einzelnen, die das Christentum aus seiner Heiligen Schrift abgeleitet hat, kennen oder anerkennen. Es ist ein historisches Faktum, dass dieser Glaube die Denker des Humanismus ebenso inspiriert hat, wie er eine Grundlage der modernen Menschenrechte bildet. Der Naturzustand ist ein methodisches Konstrukt, um eine Vorstellung zu konkretisieren. Bei Locke, bei Hobbes, bei Rousseau. Der Naturzustand ist ein pragmatischer Begriff, kein dogmatischer. Er hat nichts mit den angeborenen Ideen zu tun, an die Descartes noch geglaubt hat. Woher kommen die vier Freiheiten? Warum sind es nicht sechs Freiheiten: zum Beispiel die Freiheit der sexuellen Orientierung. Oder: die Freiheit der Presse. Die Annahme, dass wir frei sind, ist schon ein Glaubensartikel. Fragen Sie mal Neurologen, Evolutionsbiologen oder Spieltheoretiker, ob wir wirklich frei sind. Wenn Sie Freiheit behaupten, wo andere keine Freiheit sehen, sagen Sie, dass andere dort auch Freiheit sehen müssen. Dann ist Ihr Freiheitsbegriff ist in vollem Umfang platonisch, Alan.* Posener: Ach kommen sie, Alexander: Die Vorstellung von der Bedeutung des Einzelnen hat das Christentum doch nicht erfunden. Sie ist - wenn schon - eine jüdische Erfindung. Und sie hat nichts mit einer "Freiheit vor Gott" zu tun, die Sie weiterhin nicht definiert haben. Völlig unabhängig von den Juden haben auch die Griechen nach Sokrates das Individuum ins Zentrum ihres Denkens gestellt. Die Vorstellung von der Bedeutung des Einzelnen ist also - wie die von den Athenern erfundene Demokratie - mit dem Paganismus durchaus vereinbar. Dass diese Tradition zuerst in der Weise auf uns kam, dass Paulus das Judentum mit dem griechischen Paganismus und der römischen Mysterientradition verschmolz, um eine synkretistische Universalreligion zu schaffen, die nach Konstantin zur einzig erlaubten Reichsreligion wurde, ist unbestritten. Dieses Christentum war, vergessen wir das nicht, die Religion einer imperialen Sklavenhaltergesellschaft. Vermutlich waren die paganen Germanen, die Rom bekämpften, freier. Und von solcher Freiheit rede ich - von konkreten Freiheiten, daher die vier unabdingbaren Freiheiten Roosevelts. Von politischen Freiheiten also, die völlig unabhängig sind von religiösen oder naturwissenschaftlichen Begründungen. Weshalb Böckenförde Unrecht hat. Das Gegenteil ist richtig: Das freie Denken beruht auf Voraussetzungen, die nur der demokratische Staat gewähren kann.   *Görlach: Freies Denken gibt es nur in demokratischen Staaten? Das lasse ich dann mal so stehen. Ich hoffe doch, dass es im Iran, in Russland, in Korea und Italien Menschen gibt, die frei zu denken in der Lage sind. Ich schulde Ihnen aber noch eine Antwort zur Freiheit des Christenmenschen. Danke, dass Sie mich daran erinnern: Jeder Mensch ist Adressat der Liebe Gottes. Als Gleiche begegnen sie sich auch als Freie, denn jeder ist der willkürlichen Verfügung durch den anderen entzogen. Diese Vorstellung gab es weder im paganen Götterhimmel noch in der jüdischen Tradition: Dass Gott den Menschen durch seine Menschwerdung entgegenkommt, ist ebenso neu in der Alten Welt wie die Aufforderung zur Feindesliebe. Das Christentum ist eine religionsgeschichtliche Zäsur, gleichwohl entsteht es nicht kontextlos. So wird es keinen vernünftigen Menschen wundern, dass es Elemente der Umgebung, in der es lebt - bis heute - aufnimmt und integriert. Was an "paganen" - der Begriff klingt im Vergleich zum Terminus "antik", den ich an dieser Stelle wählen möchte, sehr abwertend - Elementen in die abendländische Kultur eingeflossen und Allgemeingut geworden ist, ist es über die christliche Religion geworden.* Posener: Wirklich freies Denken kann es in einer Diktatur nicht geben, nein. Das Lied behauptet, "die Gedanken sind frei", das ist aber eine Illusion. Gedankenfreiheit ohne Meinungsfreiheit ist eine Illusion. Deshalb steht die Freiheit über der Wahrheit. Nicht die Wahrheit macht uns frei, wie Paulus behauptet, sondern die Freiheit ermöglicht uns die Suche nach der Wahrheit. Was Sie über die ganz neue Freiheit eines Christenmenschen sagen, klingt zunächst nett. Aber Sie irren sich. Das Gebot der Nächstenliebe, das ja die willkürliche Verfügung eines Menschen über einen anderen einschließt, findet sich schon bei Levitikus. Selbst von der Feindesliebe ist in der hebräischen Bibel die Rede. Aber das ist ein akademischer Streit, denn es bedeutet überhaupt eine Minderung der christlichen Botschaft, wenn Sie deren Beitrag zur gesellschaftlichen oder politischen Freiheit rühmen. Denn im Kern dieser Botschaft steht nicht die gesellschaftliche oder die politische Freiheit, sondern die Auferstehung. Das Christentum ist nicht dazu da, die Gesellschaft besser zu machen. Die Gesellschaft aber kann dazu beitragen, das Christentum besser zu machen. So hat der Siegeszug der Demokratie dazu geführt, dass der "Syllabus errorum" des Heiligen Pius IX., in dem unter vielen anderen "Modernismen" die Glaubensfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche abgelehnt werden, nicht mehr gilt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dann erstmals die Demokratie anerkannt. Davor sympathisierte die Kirche eher mit Herrschaftsformen, die wir als klerikalfaschistisch bezeichnen würden. Ich wiederhole: Das Christentum lebt heute von gesellschaftlichen Voraussetzungen, die es selbst nicht hervorzubringen vermochte. *Görlach: Dann leben also die Kirche und der Staat von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren konnten. Das ist ein schönes Fazit, das Sie hier ziehen Alan. Aber Sie sind dann, wenn Sie so argumentieren, doch Platoniker.*
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