Wähler wählten – und Richter entscheiden
Nach einer Wahl, die knapper ausfiel als von den Demoskopen vorausgesagt, erklärt sich Donald Trump zum Sieger – und will den Supreme Court anrufen, um die Auszahlung von Briefwahlstimmen zu verbieten

Der Verlierer der Wahl steht fest: Amerikas Demoskopen können einpacken. Ihren Umfragen wird so rasch niemand mehr Glauben schenken, zum zweiten Mal nach 2016 haben sie den Rückhalt von Donald Trump nicht ermessen können. Beim ersten Mal wurde er als absoluter Außenseiter Präsident, jetzt ist nach einer langen Nacht offen, ob er den nach den vorläufigen Prognosen führenden Joe Biden auf dem Weg zu den benötigten 270 Electoral-Stimmen noch überholen kann. Trump beansprucht, wie erwartet wurde, für sich den Sieg und will den Supreme Court anrufen, um eine Einbeziehung von Briefwahlstimmen zu verhindern. Der Autor tröstet sich angesichts des Versagens der Demoskopen damit, dass er stets einen ausdrücklich als „knapp“ bezeichneten Sieg Bidens vorausgesagt hat, und das kann sich weiterhin als zutreffend herausstellen – insbesondere dann, wenn die Briefwahlunterlagen einbezogen werden, so wie es den Wählern, die diesen Weg beschritten und sich in einer Rekordzahl an den Wahlen beteiligt haben, versprochen wurde.
Beim Stand von 230 zu 213 Stimmen für den demokratischen Herausforderer, aber zugleich bei etlichen noch nicht ausgewerteten Bundesstaaten, in denen der republikanische Präsident führt, lassen sich folgende erste Schlüsse ziehen:
Erstens: Für die Trump-Wähler gab das Thema Wirtschaft den Ausschlag für ihre Wahlentscheidung. Trump-Wähler sind nur zum Teil Trump-Anhänger, viele von ihnen mögen den Präsidenten nicht, oft verachten sie ihn gar, aber sie wählen ihn, weil sie Republikaner sind und deren Wirtschaftspolitik vorziehen. Allerdings könnten sie, im Falle einer Amtsbestätigung von Trump, enttäuscht feststellen, dass er diesmal nicht mehr viele Möglichkeiten hat, den Aufschwung zu beschleunigen, weil er die Steuern schon sehr massiv gekürzt und viele Regulierungen abgebaut hat. Irgendwann gibt es keine Fesseln mehr, die übrig wären, um eine Konjunktur zu entfesseln.
Zweitens: Sollte Biden Präsident werden, dann wäre er im Sinne seines Zieles, die Bürger wieder zusammenzuführen, sehr gut beraten, wenn er nicht den linken Ideologen in seiner Partei folgt, sondern einen Kurs der ökonomischen Vernunft steuert. Klar, als Demokrat wird er um Steuererhöhungen nicht herumkommen. Aber in der schwierigen Phase des Wiederaufbaus nach Corona sollte er sie nur für die allerhöchsten Einkommensklassen und in einer eher symbolischen Größe verfügen – sonst würgt er die Ökonomie ab.
Drittens: Für die Biden-Wähler stand das Thema Corona im Vordergrund. Das zeigt: Ohne die Pandemie wäre Trump wohl ziemlich eindeutig wiedergewählt worden. Wird Biden Präsident, muss er sich um die Eindämmung der Infektionswelle kümmern, die entgegen den ständigen Behauptungen Trumps noch keineswegs überwunden ist. Bidens Ermahnungen, Masken zu tragen und sozialen Abstand zu wahren, dürften einen positiven Einfluss auf die weitere Entwicklung haben. Aber der Demokrat sollte sich hüten, mit überzogenen Lockdown-Maßnahmen der übel angeschlagenen Wirtschaft einen zusätzlichen Schlag zu versetzen. (Und, klar, es wäre gut, wenn auch Trump diese Regeln propagieren würde – aber dass sich dieser Präsident ändert, ist extrem unwahrscheinlich.)
Viertens: Es war ein kluger Schachzug von Biden, sich in der Wahlnacht früher als Trump an die Amerikaner zu wenden – und dabei zwar seine Zuversicht zu vermitteln, dass er auf dem Weg zum Sieg sei, aber zugleich darauf zu verzichten, sich zum Sieger auszurufen. Außer den verstocktesten Trumpianern werden die meisten Amerikaner diese maßvolle Erklärung des Herausforderers mit dem späteren Auftritt und dem dort erneut formulierten Vorwurf des Präsidenten vergleichen, „sie“ versuchten ihm den Wahlsieg zu stehlen. Trump bleibt in seinem Verzicht auf Fakten und Wahrheit auch in einer historischen Situation seinem Stil treu. Leider.
Fünftens: Wie 2016 holte Trump nicht nur Florida, sondern mutmaßlich auch Pennsylvania, Michigan und Wisconsin. Dort hatte Biden, anders als Hillary Clinton 2016, von Anfang an sehr intensiv um die Stimmen gekämpft. Dass die Mehrheiten dort trotzdem für den Präsidenten votierten, sollte auch Betrachtern von außerhalb, darunter den Deutschen klar machen, dass es sich bei Trump-Anhängern nicht nur um „Abgehängte“ und „Rassisten aus dem Süden“ handelt, sondern um Average Joe, also viele Durchschnittsamerikaner, denen das programmatische Angebot der Demokraten zu links, zu sozialistisch, schlicht: unheimlich ist. Soll heißen: Es gibt zwei Amerikas, das eine ist europäischer und wählt Biden, das andere will amerikanischer bleiben und wählt die Republikaner. Aber keines dieser beiden Amerikas ist inkompatibel mit europäischen Werten. Auch wenn Trump aufgrund seiner ständigen Verdrehung von Fakten eine Zumutung bleibt.
Fazit: Die Amerikaner müssen sich, so wie wir, gedulden, bis geklärt ist, wer ab Januar 2021 ihr Präsident ist. Und möglicherweise wird ihnen die Entscheidung am Ende das Oberste Gericht aus der Hand nehmen. Wem wird der Supreme Court recht geben? Bitte, bitte, jetzt keine Umfragen dazu...