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> Bedrohte politische Debatte unter Schwarz-Rot

Schlaf, Deutschland, schlaf

Artikel vom

Wer vor der Wahl beklagte, Frau Merkel schläfere das Land ein, dürfte sich noch wundern. Jetzt fängt die kalte Jahreszeit erst an.

The European

Als es um Handfestes geht, ist die neue Chefin längst weg. Trotz der Wahlniederlage als Spitzenkandidatin hat Katrin Göring-Eckardt es geschafft, in ihrer Partei mächtig zu bleiben. Sie soll die grüne Bundestagsfraktion in der Opposition führen. Dazu braucht es Verve und Tatkraft. Der erste Eindruck mutet allerdings schlaff und müde an. Damit könnte die grüne Spitzenfrau symptomatisch für die kommenden vier Jahre sein. Jahre, in denen die Republik im Winterschlaf der großen Merkel-Koalition versinkt. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio warnt "im aktuellen „Spiegel“":http://www.spiegel.de/politik/deutschland/udo-di-fabio-verfassungsrechtler-warnt-vor-der-grossen-koalition-a-928899.html vor „Streit im Flüsterton“. Er befürchtet, dass es im Bundestag noch langweiliger, pardon: noch leiser wird. Schon jetzt liegen die Parlamentsdebatten nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Doch die 18. Legislaturperiode könnte das noch unterbieten. Denn von 30 Minuten Redezeit entfallen dann 24 Minuten auf die designierte schwarz-rote Koalition. Die Regierung wird also viele Gespräche mit sich selbst führen.

Vieler parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten beraubt
Anfang der Woche traf sich die Grünen-Fraktion deshalb mit einigen Juristen. Die sollten erklären, welche Minderheitenrechte der Mini-Opposition zustehen, wenn es wie erwartet zu Schwarz-Rot kommt. Denn zusammen mit der Linken bringen es die Grünen nur auf rund 20 Prozent der Abgeordneten. Damit ist die Opposition vieler "Kontrollmöglichkeiten":http://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentarische_Kontrolle#Kontrollinstrumente_und_-institutionen beraubt. Soll das Parlament beispielsweise einen Untersuchungsausschuss einberufen, müssen bislang mindestens ein Viertel der Volksvertreter Ja sagen. Die Kanzlerin kann also beruhigt sein. Als sich der Bundestag am Dienstag zum ersten Mal im neu bestuhlten Reichstag trifft, ist ihre Macht überdeutlich: Der Block von Unionsabgeordneten nimmt den halben Saal ein. Hauchdünn trennen die Grünen die SPDler ab, am Rand kleben noch ein paar Linke. Deren Chef Gregor Gysi hat kürzlich "einen Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert geschrieben":http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-10/grosse-koalition-gysi-opposition. Auch die Linke sorgt sich um ihre parlamentarischen Rechte. Lammert sagte am Dienstag allerdings: „Klare Wahlergebnisse sind nicht von vorneherein verfassungswidrig.“ So ähnlich fiel auch das Urteil der Juristen aus, die die Grünen geladen hatten. Zwar betonten alle die Wichtigkeit der Minderheitenrechte im Parlament. Aber einer sagte auch sinngemäß: Man kann eine vergeigte Wahl nicht durch mehr Rechte ausgleichen. Grüne und Linke sind wohl, darauf läuft es hinaus, auf das Wohlwollen der Regierung angewiesen. Vielleicht gewährt sie ihr mehr Redezeit, vielleicht auch nicht. Zudem bleibt der Gang vor Gericht – Ausgang ungewiss.
Herrscher-Habitus der kommenden Jahre
Die Regierung hat signalisiert, „gesprächsbereit“ zu sein. Das klingt nicht nur gönnerhaft, das ist es auch. Die Koalition regiert zwar offiziell noch nicht, läuft aber schon mal warm. Als erste (quasi) Amtshandlung hat Schwarz-Rot am Dienstag das Präsidium des Bundestags vergrößert. Zugunsten der SPD, die wie die Union zwei Sitze erhalten soll. Ein Schelm, wer denkt, das sei ein erstes Ergebnis der Koalitionsgespräche. Inhalte mögen wichtig sein, ja. Aber Posten sind deshalb nicht egal. Die Opposition witterte „Willkür“ und "protestierte":http://www.spiegel.de/politik/deutschland/union-und-spd-wollen-je-zwei-bundestags-vizepraesidenten-stellen-a-929099.html. Immerhin, beide kleinen Parteien bekommen ebenfalls einen der Sitze im Präsidium, die mit rund 150 Prozent der normalen Abgeordnetendiät vergütet sind. Der SPD-Minister in spe, Thomas Oppermann, ließ Grüne und Linke wissen, das sei „gelebter Minderheitenschutz“. In Oppermanns süffisanter Rede war schon viel von dem Herrscher-Habitus zu erkennen, den Deutschland wohl in den nächsten vier Jahren noch deutlich öfter erleben wird. Schwarz-Rot kann durchregieren. Wer vor der Wahl beklagte, Frau Merkel schläfere das Land ein, wird sich also noch wundern. Jetzt geht der Winterschlaf erst so richtig los. Die politische Debatte dürfte unter Merkels Riesen-Koalition weitgehend zum Erliegen kommen. Denn die Spitzen der Sozialdemokratie müssen zunächst ihrer Basis in den nächsten Wochen viel Honig ums Maul schmieren. Nur so können sie dem Fußvolk der Partei die Große Koalition schmackhaft machen. Das wird vermutlich auch klappen. Doch danach können Sigmar Gabriel und Co. kaum zum Angriff auf die frisch angetraute Union übergehen. Beim ersten Misston gegenüber Merkels Mannen spränge die Basis sofort auf: „Habt ihr nicht gerade gesagt, wir _müssen_ mit denen?!“ Entsprechend ausgeprägt wird der Friede-Freude-Eierkuchen-Faktor sein. Und eine echte Opposition außerhalb dieser Koalition gibt es ja kaum. Die FDP ist in der APO, marginalisiert, und vorerst mit sich selbst beschäftigt. Die verbliebenen zwei Parteien müssten vor allem über Persönlichkeiten punkten. Die Linke hat immerhin noch Gregor Gysi vorzuweisen. Der wird es sicher hin und wieder schaffen, der Regierung verbal in die Parade zu fahren. Sahra Wagenknecht ist der ein oder andere Talkshow-Auftritt stets sicher. Aber bei den Grünen?
Aufmerksamkeit wird in dieser Legislatur rar wie nie
Britta Haßelmann, die neue Geschäftsführerin, macht noch den kämpferischsten Eindruck. Doch genau wie Anton Hofreiter, die zweite Fraktionsspitze neben Göring-Eckardt, ist sie der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Die Grünen haben sich, das dürfte noch deutlicher werden, in einer denkbar ungünstigen Situation ihres prominenten und schlagfertigen Spitzenpersonals beraubt. Die Neuen genießen zumindest eine Zeit lang Welpenschutz. Für mehr Debatte wird dieser Bonus freilich nicht sorgen. Katrin Göring-Eckardt beweist besser früh als spät, dass es kein Fehler war, sie zu halten. Als bei dem Fachgespräch Anfang der Woche die Juristen ihre Einschätzung geben, ist die neue Fraktionsvorsitzende jedenfalls schon gegangen. Dafür hält ihre Vorgängerin Renate Künast leidenschaftliche Plädoyers. Ok, Göring-Eckardt hat viel zu tun. Trotzdem könnte diese kurze Aufnahme symptomatisch sein. Ahnt sie bereits, was für ein langer politischer Winterschlaf Deutschland bevorsteht? Auch im Bundestag wirkte die grüne Frontfrau am Dienstag zurückhaltend, abwartend. Sie sah in ihrem schwarzen Hosenanzug und dem orangenen Tuch ein bisschen wie eine Stewardess von der Lufthansa aus. Freundlich bedient werden muss die Regierung in Zeiten der Großen Koalition aber ganz sicher nicht. Doch vielleicht weckt sie uns ja nach vier Jahren wenigstens nett lächelnd auf.
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