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Außenpolitik > Amerikas Kulturkampf und die Gewalt in Kenosha

In Kenosha wird Amerika Kulturkampf blutig

Während Donald Trump den Ort der blutigen Unruhen bereist und so die Bilder von zerstörten Gebäuden und Autos ins Bewusstsein zwingt, steckt Joe Biden in einem Dilemma: Weiße Wähler erwarten von ihm klare Bekenntnisse zu Recht und Ordnung. Doch die radikalen Teile der Black-Lives-Matter-Bewegung könnten ihm das als Mangel an Loyalität auslegen und am Wahltag vergelten

Pressekonferenz im Weißen Haus: Ansgar Graw befragt Donald Trump während eines Besuchs von Angela Merkel (März 2017)
Pressekonferenz im Weißen Haus: Ansgar Graw befragt Donald Trump während eines Besuchs von Angela Merkel (März 2017)

Donald Trump weiß, wie Medien funktionieren. Am Dienstag dementierte er zunächst über Twitter, dass er eine Reihe kleinerer Schlaganfälle erlitten habe (was aus dem Umfeld von Joe Biden als Mutmaßung gestreut wird wegen einiger Auftritte des Präsidenten mit vernuschelten Wörtern). Dann ließ er sich mit der Air Force One in das von Polizeigewalt, tagelangen Brandschatzungen und tödlichen Schüssen erschütterte Kenosha im Bundesstaat Wisconsin fliegen. Dort steuerte sein Team die Ruinen eines verwüsteten Gerichtsgebäudes, eines niedergebrannten Möbellagers, mehrerer umstehender Häuser und etlicher ausgebrannter Autos an – Bilder wie aus einem Krieg. Und alle Journalisten und Medienleute waren dabei. „Präsident @realDonaldTrump besucht die Orte der Überreste der ‚meist friedlichen‘ Proteste in Kenosha“, höhnte auf Twitter das Trump-treue ReaganBattalion samt Fotos von der bedrückenden Szenerie.

Von der „friedlichen Natur der Proteste“ hatte eine Wahlkampf-Managerin Joe Bidens gesprochen, die am Dienstag begründete, der Herausforderer werde nicht nach Kenosha reisen, um diesen Zustand nicht zu gefährden. Friedlich? Die amerikanischen Medien hatten die Gewalt und Verwüstungen durch linksradikale Chaoten im Umfeld der Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) nicht verschwiegen. Aber zumeist betonten sie doch die sieben Schüsse eines Polizisten in den Rücken des Afroamerikaners Jacob Blake oder jene zwei Opfer, die ein 17-jähriger Trump-Anhänger bei den nächtlichen Unruhen erschossen hatte (die Staatsanwaltschaft wirft dem selbsternannten Bürgerwehr-Vigilanten Mord vor, obgleich Videobilder die Einschätzung Trumps, der Teenager habe „in Notwehr“ gehandelt, durchaus stützen könnten). Oder sie hatten ebenfalls den „überwiegende friedlichen“ Charakter der anschließenden Proteste hervorgehoben. Jetzt, im Gefolge des Präsidenten, gerieten jene Verwüstungen in den Fokus der Kameras, die Trump für seine Law-and-Order-Botschaft prächtig gebrauchen kann. Seit er die Nationalgarde nach Kenosha orderte, wurde es dort umgehend ruhiger.

Biden fragt: "Sehe ich aus wie ein radikaler Sozialist?"

Das bringt Biden unter Druck. Am Montag nutzte er eine Rede, um die Zuschauer aufzufordern: „Fragen Sie sich selbst – schaue ich aus wie ein radikaler Sozialist mit einer Schwäche für Randalierer?“ Der Demokrat setzte sein gewinnenstes Großvater-Lächeln auf und fügte an: „Randale ist kein Protest. Plünderungen sind kein Protest. Brandstiftungen sind kein Protest. Nichts davon ist Protest. Es ist schlicht und einfach gesetzlos, und wer immer das tut, sollte vor Gericht.“

Gewalt bedeutet nicht immer direkte körperliche Auseinandersetzung, sondern begnügt sich manchmal mit deren unausgesprochener Androhung. Dieser Tage veröffentlichte die „Washington Post“ mehrere Videos von radikalen BLM-Protestlern, die vor Straßenrestaurants in Washington aufmarschierten, draußen sitzende weiße Dinner-Gäste beschuldigten, „weiße Privilegien“ zu genießen, und ihnen wie fliegende Eilgerichte lautstarke Kommandos gaben, die rechte Faust als Zeichen der Solidarität mit ihrer Bewegung zu heben. In einer Szene verweigert sich eine Frau mittleren Alters der Aufforderung. Daraufhin wird sie minutenlag und Nasenspitze an Nasenspitze von den hauptsächlich weiblichen (und ausnahmslos weißen) Demonstranten angebrüllt.

In einem anderen Video handelt es sich um eine junge schwarze Aktivistin, die als Wortführerin einer größeren Gruppe vor einem anderen Restaurant einen jungen Mann schrill und aus nächster Nähe beschimpft, weil er sich dem Faust-Ritual verweigert. Beim Kameraschwenk sieht man Männer an Nachbartischen mit erhobener Faust, die allerdings eher eingeschüchtert als begeistert von der Aktion wirken.

Randalierer und Bürgerwehren

Natürlich sind die meisten BLM-Aktivisten friedlich. Aber es gibt eben auch diese Szenen einer moralischen Anmaßung, die in sehr drastischer Art auf die Einschüchterung Andersdenkender abzielt. Zusammen mit den bewaffneten "Bürgerwehren", gestellt von (ebenfalls in der Mehrheit gewaltfreien) Trump-Anhängern, liefern diese Bilder bedrückende Einblicke in einen aufziehenden Kulturkampf in den USA. Seit der brutalen Tötung des George Floyd im Mai in Minneapolis/Minnesota durch weiße Cops wurden Denkmäler von Christoph Columbus ebenso gestürzt wurden wie solche der einstigen Präsidenten George Washington, Thomas Jefferson und Teddy Roosevelt. Und auch von Francis Scott Key, dem Autor der Nationalhymne „The Star-Spangled Banner“. Sogar die Entfernung eines Monuments zu Ehren von Abraham Lincoln steht bei einigen radikalen Bilderstürmern auf der To-Do-Liste, weil es den Sklavenbefreier und ihm gegenüber einen devot-dankbaren Schwarzen zeigt.

Angst vor Randale und gesetzlosen Zuständen in den Städten haben weiße wie schwarze Amerikaner. Und obwohl die Gewalt meist von Trittbrettfahrern der Black-Lives-Matter-Bewegung ausgeht, sind die Täter keineswegs immer Afroamerikaner. Aber die Gesamtszenerie, in der 155 Jahre nach dem Ende der Sklaverei und 60 Jahre nach der schwarzen Bürgerrechtsbewegung die Weißen kollektiv wegen ihrer „Privilegien“ auf die Anklagebank gesetzt werden, rückt diese mit etwa 60 Prozent immer noch größte ethnische Gruppe wieder in den Blick auch der Demokraten, die sich in den vorigen Wahlkämpfen vor allem um die Minderheiten bemüht hatten.

Trump setzte schon 2016 ganz auf die Weißen

Trump hat schon 2016 ganz auf die Weißen gesetzt, insbesondere auf ihre Mittel- und Unterschicht. Darum versprach er die Mauer und warnte vor hispanischen „Vergewaltigern“ und „Kriminellen“. Die Afroamerikaner umwarb Trump allenfalls mit der (bis Corona sogar weitgehend gehaltenen) Verheißung, durch eine von ihm initiierten Aufschwung würde es auch für sie mehr Jobs geben.

Vor allem die älteren Weißen sicherten seinerzeit Trumps Sieg, darunter in entscheidenden Battleground States wie Florida und Pennsylvania. Das würde der Präsident gern wiederholen. Aber Biden setzt genau hier an: Die große Zahl von Corona-Toten im Senioren-Alter gibt dem Herausforderer ein Argument in die Hand. Menschen wie die Rentnerin Donna, die ihre Enkel seit Monaten nur über Skype sehen kann, kommen darum in Video-Anzeigen des Teams Biden zu Wort. „Ich werfe Donald Trump nicht vor, dass es das Virus gibt, ich werfe ihm vor, dass er nicht gehandelt hat“, sagt Donna.

Und trotzdem: Biden ist weiterhin nicht so stark, wie er sein müsste, um sich seines Sieges einigermaßen sicher sein zu dürfen. In den nationalen Umfragen führte er am 31. August mit durchschnittlich 6,5 Prozentpunkten. Hillary Clintons Vorsprung betrug vor vier Jahren um diese Zeit etwa 7 Prozentpunkte. Und, ebenfalls alarmierend, in der vorletzten Woche, als die Democrats ihre National Convention durchführten und Biden sowie seine running mate Kamala Harris offiziell nominierten, gab es keinen nennenswerten Ausschlag nach oben. Die Republican National Convention eine Woche später brachte Trumps immerhin ein kleines Stück näher an den Führenden.

Eine Pew-Umfrage mit zwei Überraschungen

Auch eine Umfrage von Pew Research aus dem August sieht Biden vor Trump, und zwar mit acht Punkten (53 zu 45). Neben diesen unspektakulären Zahlen offeriert die Erhebung drei bemerkenswerten Ergebnisse.

Erstens: Mehr Amerikaner glauben, dass Trump gewinnt (50 Prozent), als dass Biden es schaffen wird (48 Prozent).

Zweitens: Trump mag bislang eine kleinere Fangemeinde hinter sich versammelt haben als sein Herausforderer. Aber die „Trumpisters“ sind die leidenschaftlicheren, stärker überzeugten Fans. 66 Prozent der befragten Amerikaner, die angaben, sie seien für die Wiederwahl des Präsidenten, bezeichnen sich als „starke Unterstützer“. Unter den Biden-Anhängern sind nur 46 Prozent „starke Unterstützer“.

Biden wählen, "weil er nicht Trump ist"

Das dürfte daran liegen, dass die Biden-Anhänger ihrem Kandidaten keine starken Eigenschaften zuordnen. Denn, drittens, überschaubare 19 Prozent wollen den Demokraten wählen wegen seiner Führungsfähigkeit, 13 Prozent wegen seiner Persönlichkeit und neun Prozent wegen seiner Themen und politischen Positionen – aber 56 Prozent, weil er „nicht Trump ist“.

Die Trump-Anhänger sprechen hingegen ihrem Idol zu 23 Prozent Führungsfähigkeiten zu, 21 Prozent nennen seine Themen und politischen Positionen. Dass er „nicht Biden ist“, gibt lediglich für 19 Prozent den Ausschlag für Trump.

Biden ist angewiesen auf die Stimmen der Schwarzen. Sie tendieren zu weit über 90 Prozent zu ihm, und er muss sicherstellen, dass sie auch zur Wahl gehen, trotz der Einschränkungen durch Corona. Aber er benötigt ebenso einen starken Anteil der weißen Stimmen, in jedem Fall deutlich über ein Drittel. Hillary Clinton holte 2016 in dieser Gruppe 37 Prozent, während Trump auf 57 Prozent kam.

Die Zwickmühle des Herausforderers: Vor allem die Weißen fühlen sich von den Unruhen der letzten Monate in Minnesota, Portland, New York, Boston, Los Angeles, Miami, Kenosha und zahllosen weiteren amerikanischen Städten bedroht. Sie erwarten von Biden kritische Worte in Richtung der Extremisten in der Black-Lives-Matter-Bewegung. Doch jede Äußerung dieser Art könnte von Afroamerikanern als Distanzierung von ihrem insgesamt diffusen Ziel einer größeren „Gerechtigkeit“ empfunden werden. Da kann Trump entspannt zuschauen. Von ihm erwarten die Schwarzen keine Solidaritätsgesten. Und wenn einige Afroamerikaner an eine gute wirtschaftliche Zukunft mit Trump eher glauben als mit Biden, könnten dem Demokraten entscheidende Stimmen verlustig gehen. Auch darum bleibt richtig: Die einzige relevante Umfrage steht noch aus – sie wird am 3. November kommen.

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