„Man kann Camus nicht einfach konsumieren“
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Schon 1942 suchte der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus in seinem ersten Roman Der Fremde nach moralischen Grundsätzen und Prämissen für den modernen Menschen. Mit der Literaturwissenschaftlerin Brigitte Sändig sprach Julia Korbik über Werte, Widerstand und die Bedeutung Camus’ in der ehemaligen DDR.

*The European: Frau Sändig, als wir am Telefon über das Interview sprachen, haben Sie über „Der Fremde“ gesagt: „Das ist so ein schwieriges, komplexes Werk, es lässt uns hilflos zurück.“ Wie meinen Sie das?* Sändig: Das meine ich genau so, wie ich es gesagt habe, denn dieses Buch von etwa hundert Seiten hat mittlerweile eine Flut von Interpretationen und Sekundärliteratur hervorgerufen, die weit den Text überschreitet. Eben weil dieses Buch vieldeutig auslegbar ist, die unterschiedlichsten Interpretationen ermöglicht und doch immer ein Rest bleibt, der sich nicht aufklären lässt. Mir hat zum Beispiel mal ein Lehrer gesagt: „Nun sag mir doch endlich mal, wie ‚Der Fremde‘ zu deuten ist, das wollen meine Schüler wissen.“ Und da habe ich gesagt: „Das kann ich dir nicht sagen.“ Da wird sich jeder nach seinem Erfahrungsschatz und nach dem Zeitraum, in dem er lebt, seinen Reim drauf machen – oder auch nicht. *The European: Das Buch war gleich nach Erscheinen 1942 ein Erfolg. Was war das Besondere an diesem Werk? Was konnte es den Menschen im damals besetzten Frankreich geben?* Sändig: Der große Erfolg setzte wohl erst nach 1945 ein. Da hatte Camus nämlich die Aura, und das berechtigtermaßen, des Widerstandskämpfers. Er äußerte sich, er hat ja auch in der illegalen Presse veröffentlicht, hat also wirklich unter Lebensgefahr unter der deutschen Besatzung agiert. Und ein Intellektueller, der mit diesem Qualitätsmerkmal ausgezeichnet war, das war eben in der damaligen Zeit eine wichtige Person. Auch das hat Camus dann nach 1945 bekannt gemacht, ebenso wie seine Freundschaft mit Sartre und was da alles mitspielte. Dann wurde man auf dieses Buch im großen Rahmen aufmerksam. Als es 1942 erschienen ist, hat es natürlich erst mal die Förderung maßgeblicher Leute gefunden, aber es war doch zunächst Sache eines eingeweihten kleinen Kreises, die außerordentlichen Qualitäten dieses Buches zu erkennen. Die Menschen im damaligen Frankreich konnten sich vielleicht wiedererkennen, in diesem Menschen (_Meursault, Protagonist in „Der Fremde“, Anm. d. Red._), in diesem indifferenten Menschen, der sein Leben erst nach vorgegebenen Maßstäben lebt und diese Maßstäbe dann auf eine gar nicht mal erklärbare Weise durchbricht und in eine ganz andere Haltung hineinkatapultiert wird – und am Schluss vor allem diese Art zu leben als die einzig richtige erkennt. Eine direkte Anleitung zum Widerstand ist dieses Buch natürlich nicht.