Es ist wenig überraschend: Am Wahlabend gibt es in den USA keinen Sieger, weder Donald Trump noch Joe Biden liegt klar vorne. Es wird wahrscheinlich noch einige Tage dauern, bis wir wissen, wer ab dem 20. Januar 2021, dem Tag der Amtseinführung, im Oval Office sitzen wird. Wie auch immer sich die kommenden Stunden, Tage und Wochen entwickeln werden: Ich wünsche mir für die Menschen in Amerika vor allem mehr Ruhe und Gelassenheit, weniger Polarisierung und Aggression. Ich glaube jedoch fest: Was auch immer passieren wird, die Demokratie in den USA ist stark genug, um diese Erschütterungen auszuhalten.
Was bedeutet diese Wahl für uns in Deutschland und Europa? Wie wird sich das transatlantische Bündnis in Zukunft gestalten lassen? Fest steht: Wir müssen mehr tun, auf vielen Feldern – egal wer nun Präsident wird. Deutschland muss sich als Partner- und Führungsnation in Europa mehr einbringen, Stärke zeigen im engen Verbund mit Frankreich. Nur geeint kann Europa auf Augenhöhe mit den USA kooperieren, nur als vitaler Kontinent sind wir für Washington attraktiv. Nur gemeinsam können wir in den nächsten Jahrzehnten Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit verteidigen, nur gemeinsam können wir auch unseren relativen Wohlstand bewahren.
Selbstkritisch müssen wir unter anderem feststellen: Seit 2014 – dem Jahr, als wir uns auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO festgelegt haben – haben wir zu wenig für unsere Sicherheit getan. Das Zwei-Prozent-Ziel ist nicht falsch, nur weil Trump uns mit der für ihn typischen Wortwahl daran erinnert. Investitionen in die Bundeswehr dürfen aber nicht planlos erfolgen, wir müssen klug und effizient in die Zukunft starten, also zum Beispiel im Bereich Cyber und Digitalisierung mit Kraft vorangehen. Mehr Geld für Sicherheit – das sind wir nicht nur den Menschen in Deutschland, sondern auch unseren Freunden in der NATO schuldig. Um es einfach zu sagen: Sicherheit gibt es nicht zum Diskounterpreis.
Wir haben im noch jungen 21. Jahrhundert bereits drei Weltkrisen erlebt: 9/11, Finanzkrise und nun Corona-Pandemie, die auch eine gewaltige Wirtschaftskrise ist. Absehbar ist: Der neue Kalte Krieg zwischen dem Westen und China, der aktuell heraufzieht, wird die internationale Politik noch komplexer und schwieriger machen. Und es werden weitere Verwerfungen folgen, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.
Das sollte für uns in Deutschland und Europa bedeuten: Nur im engen Bündnis mit den USA und Kanada können wir in Zukunft bestehen. Es gibt so viel zu tun: In den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft, Gesundheit und Wissenschaft, Digitalisierung und Klima sind noch lange nicht alle Möglichkeiten zur Kooperation ausgeschöpft. Packen wir es an. Mit dem – ich gebe zu, heute noch weit entfernten – Ziel, einen Neuen Westen zu bauen. Wenn wir nicht voran gehen, wer dann?