Die Gaslieferungen nach Deutschland, Kernstück der Energieversorgung der Industrie, wird von Tag zu Tag kritischer – und das Inkrafttreten der nächsten Stufe des „Notfallplans Gas“ damit wahrscheinlicher. Der Notfallplan regelt seit 2019, was passiert, wenn die Gasversorgung in Deutschland zusammenbricht. Derzeit gilt die sogenannte Frühwarnstufe. Ein Krisenteam, das bei der zuständigen Bundesnetzagentur arbeitet, beobachtet die Lage ständig. Die Experten mussten in den vergangenen Tagen feststellen, dass sich die Lage von Stunde zu Stunde verschlechtert.
Damit rückt der zweite Schritt näher, den der Notfallplan vorsieht: die Alarmstufe.
Sie tritt in Kraft, wenn „eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage” den Markt durcheinanderwirbelt. Und genau das erste passiert gerade: Vor allem durch die wichtigste Pipeline Nord Stream I, durch die Russland Gas direkt nach Deutschland pumpt, fließt nur noch knapp 60 Prozent der Menge an Gas, die theoretisch möglich ist. Gleichzeitig ist die entscheidende Erdgashandels- und Ergasspeicherungs-Gesellschaft in Deutschland, die 1500 Mitarbeiter große Gazprom Germania in Berlin aufgrund russischer Sanktionen zusammengebrochen und muss mit einem Kredit von möglicherweise bis zu zehn Milliarden Euro, der von der deutschen Staatsbank KfW kommt, aufgefangen werden. Gazprom Germania sei ein Schlüsselunternehmen für die Gasversorgung in Deutschland, lautet die Begründung der Bundesregierung für den Kredit, der jeden Rahmen, den die KfW sonst absichert, sprengt.
Vor diesem Hintergrund schreibt die Bundesnetzagentur in ihrer täglichen Lagebeurteilung jetzt: Sie beobachte die Situation genau und stehe „in ständigem Kontakt zu den Unternehmen der Gaswirtschaft.“ Und sie fordere alle ausdrücklich auf, Gas zu sparen, wo es geht. Aktuell, so die Einschätzung, sei „die Versorgungssicherheit weiter gewährleistet“.
Dennoch spitzt sich die Situation zu, weil die staatliche russische Energiegesellschaft Gazprom in Sankt Petersburg offenbar willkürlich am Gashahn dreht. Gazprom begründet die einbrechenden Liefermengen mit einem fehlenden Kompressor, der derzeit nicht vom damit beauftragten Konzern Siemens installiert werden kann. Tatsächlich hat Siemens diesen Kompressor zur Wartung nach Kanada verfrachtet, von wo aus er wegen der Sanktionen gegen Russland derzeit nicht zurückgeschickt wird. Allerdings hält die Bundesnetzagentur den russischen Hinweis auf das fehlende Bauteil für einen Vorwand: „Einen kausalen Zusammenhang zwischen dem auf russischer Seite fehlenden Gaskompressor und der großen Lieferreduzierung können wir im Moment nicht bestätigen“, schreibt sie. Damit wird klar, dass auch die dem Wirtschaftsministerium unterstehende Bundesnetzagentur nicht mehr an die Zuverlässigkeit der russischen Lieferungen glaubt und die „Störung der Gasversorgung“, die die Voraussetzung für die Ausrufung der Alarmstufe ist, näherrückt.
In so einer Alarmphase gilt, dass die Netzbetreiber die Stabilisierung der Versorgung noch über Angebot und Nachfrage regeln können.
Der Markt ist noch nicht ganz außer Kraft gesetzt. Allerdings können sie den Gasfluss stoppen, ohne gleich vertragsbrüchig zu werden. Die von den Lieferschwankungen betroffenen Unternehmen zahlen dann einen geringeren Betrag an die Betreiber der Gasnetze. Sie haben allerdings keine Produktionssicherheit mehr, was zu massiven Störungen in den Betrieben führen kann. Außerdem ist in der Alarmstufe jederzeit der Rückgriff auf die deutschen Gasspeicher möglich, die derzeit eigentlich gefüllt werden müssen, damit im Winter genug Gas für alle da ist. Die Füllmenge der Gasspeicher liegt aktuell nach Auskunft der Bundesnetzagentur bei knapp 56 Prozent des möglichen Volumens.
Falls auch diese Maßnahmen nicht ausreichen, um die Gasversorgung zu regeln, würde die dritte Stude des Notfallplans in Kraft treten: die echte „Notfallphase“. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass auf dem Markt kein Gas mehr für den freien Verkauf verfügbar wäre. Dann ist das Abklemmen einzelner Verbraucher keine Entscheidung mehr, die irgendwie ausgehandelt wird, sondern der Staat – und in diesem Fall wiederum die Bundesnetzagentur – teilt das Gas zu. Bei einem Stopp der russischen Lieferungen könnte dieser Fall eintreten.
Denn noch immer gilt: Mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Gases wird bisher aus Russland importiert. Ein Ende der Einfuhren würde die zur Verfügung stehende Menge entsprechend stark verringern. Auch wenn seit Monaten mit anderen möglichen Lieferanten verhandelt wird und mögliche Alternativen geprüft werden, könnte der Wegfall russischer Gasimporte kurzfristig nur teilweise, aber nicht komplett ersetzt werden.
Private Haushalte und soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser oder auch Gaskraftwerke, die für die Stromerzeugung erforderlich sind, sollen immerhin auch in der Notfallphase weiter beliefert werden – sofern noch Gas da ist. „Haushaltskunden unterliegen in einer solchen Situation einem besonderen gesetzlichen Schutz und werden vorrangig versorgt”, heißt es von der Bundesnetzagentur.