Die dritte Erfindung der Bundesrepublik
Die Deutschen erleben, zumindest im Westen erstmals nach 1945, ihre Verletzlichkeit. Waren die Demonstrationen gegen Atomkraft oder Atomrüstung seit den 60er Jahren in Wahrheit nur Betroffenheitsfolklore und hatte auch in der Zeit der Golfkriege niemand genuine Angst, so stellt die aktuelle Pandemie das Leben der Älteren und derjenigen mit Vorerkrankungen sehr real infrage – und die wirtschaftliche Existenz von nahezu jedem.

Das erste Nachkriegsdeutschland wurde zwischen 1945 und 1949 erfunden. In den westlichen Besatzungszonen hieß es Bundesrepublik, in der sowjetischen Besatzungszone Deutsche Demokratische Republik. Die Bundesrepublik bildete den Übergang von Hitler zu Adenauer, von einer Diktatur zu einer Demokratie und zur sozialen Marktwirtschaft. Die DDR ließ Alleinherrscher von Moskaus Gnaden an die Stelle des braunen Diktators treten, zunächst Ulbricht, später Honecker, etablierte eine rote Diktatur und verurteilte zwar energisch den massenmörderischen Ansatz des Dritten Reichs, hielt aber an der Bereitschaft zum gnadenlosen Terror gegen "Systemgegner" fest. Wer den Staat zu verlassen versuchte, musste ab 1961 mit Schüssen in den Rücken rechnen.
Nach der sozialen Ächtung
Das zweite Nachkriegsdeutschland entstand nach der friedlichen Revolution in den DDR 1989. Sie führte zur Wiedervereinigung, die keineswegs auf der Agenda der bundesdeutschen Regierungen und erst recht nicht in den Plänen des DDR-Regimes gestanden hatte. Der Historiker Edgar Wolfrum bescheinigt dem geeinten Deutschland einen Aufstieg seit 1990. Allerdings ist die geeinte Nation inzwischen so polarisiert wie nie zuvor zwischen links und rechts, Refugee-Welcome-Enthusiasten und Migrationsskeptikern, dass eine solche nur positive Betrachtung apolitisch ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass das geeinte Deutschland seine dominierende politische Rolle in Europa verloren hat. Der vermeintliche Aufsteiger ist also objektiv auch abgestiegen.
Und nun scheint eine weitere, die dritte Erfindung von Nachkriegsdeutschland unvermeidlich. Von der Corona-Krise, die noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, lässt sich bereits heute sagen, dass sie über viele Jahre, möglicherweise für die gesamte überschaubare Zukunft dauerhafte Folgen haben wird – auch dann, wenn die Krankenhäuser wieder normal arbeiten, Kinder wieder zur Schule gehen und Menschen nicht der sozialen Ächtung anheim fallen, wenn sie abends in Biergärten sitzen.
Konfrontation mit der Verletzlichkeit
Die Deutschen erleben, zumindest im Westen erstmals nach 1945, ihre Verletzlichkeit. Waren die Demonstrationen gegen Atomkraft oder Atomrüstung seit den 60er Jahren in Wahrheit nur Betroffenheitsfolklore und hatte auch in der Zeit der Golfkriege niemand genuine Angst, so stellt die aktuelle Pandemie das Leben der Älteren und derjenigen mit Vorerkrankungen sehr real infrage – und die wirtschaftliche Existenz von nahezu jedem. Angestellte im öffentlichen Dienste und erst recht Beamte dürften sicher sein vor Arbeitslosigkeit. Aber auch auf sie warten Zumutungen, wenn der Staat aufgrund der enormen Ausgaben, die für die Bewältigung der Corona-Krise zu finanzieren sein werden, und der zu erwartenden massiven Steuerausfälle den Gürtel enger schnallt und sich auf Wesentliches konzentriert.
Das Post-Corona-Deutschland wird auf lange Zeit ein gänzlich verändertes Risikoempfinden haben. Die Unschuld der Begegnung mit den anderen ging verloren. Ja, man wird sich wieder mit Bekannten treffen. Aber ist der Wangenkuss wirklich nötig? Und der Händedruck tatsächlich unverzichtbar? Der Fist Bump, auch Ghettofaust genannt, ist zweifellos hygienischer. Denn hat sie nicht fiebrige Augen? Und er eben so seltsam gehustet? Ist das der Virus, den wir gerade ausgestanden haben? Oder schon ein neuer? Und soll man die Kinder nach Schulschluss wirklich zu den bereits etwas angegriffenen Großeltern lassen?
Das Misstrauen bleibt
Das Misstrauen gegenüber dem unbekannten Feind, dem Virus, der, wie wir jetzt gelernt haben, auf jedermanns Hand lauern kann, macht Videokonferenzen und die Nutzung des Home-Office von der Improvisation zur Regel. Schimpfte man in bildungsbürgerlichen Milieus bis zum Ausbruch der Krise auf Online-Konzerne, bestellt mancher jetzt lieber im Netz als zum Buchhändler im Kiez zu gehen. Sicher ist sicher.
Deutschland, immer reich und selten sich dessen bewusst, wird nicht nur bei den sozialen Kontakten, sondern auch materiell ärmer sein. Unternehmen, die in Konkurs gingen, ob in der Reise-, Automobil- oder Gastrobranche und im Einzelhandel, haben ihre Mitarbeiter entlassen und die sorgen sich jetzt, ob sie noch die Hypothek für ihr Wohneigentum, den Kredit für das Auto oder zumindest die Miete werden zahlen können.
Der Sozialstaat schrumpft
Sozialleistungen wachsen nicht mehr, mit ihrer Verteilung wird plötzlich sorgsamer umgegangen. Sachleistungen statt Geldzahlungen könnten ein Mittel werden, um den einstigen Pullfaktor des bislang so großzügigen Zuwendungsstaates zu beenden. Europa wird um qualifizierte Einwanderer buhlen, aber sogar Deutscland seine Grenzen für illegale Migranten stärker abriegeln. Der öffentliche Dienst wird schrumpfen, weil in diesen Jahren des Wiederaufbaus andere Prioritäten gelten. Nicht jede Stelle, die aus Altersgründen frei wird, wird wiederbesetzt. Braucht tatsächlich jedes Amt ein/n Gleichstellungsbeauftragten oder eine/n Referent/in für Klimaschutz? Das neue Deutschland wird einer Luxuslimousine ähneln, die wegen diverser Reparaturen in der Werkstatt war und beim Abholen plötzlich Textil- statt Ledersitze, keine Navi mehr und weniger Airbags hat. Auch der Motor braucht länger, um auf Touren zu kommen. "Aber immer noch zuverlässig", tröstet der Kfz-Meister den zweifelnden Kunden. "Die alten Modelle sind ja praktisch unverwüstlich."
Nur an einer Stelle stockt der angezählte Staat seine Zuwendungen auf: Im Gesundheitswesen werden die Zahl der Intensivstationen, Klinikbetten und Beatmungsgeräte massiv erhöht. Riesige Vorräte werden angelegt an sterilen Gesichtsmasken, Sicherheitsanzügen und Desinfektionsmittel. Es werden Mediziner und Pfleger eingestellt. Nie wieder wollen sich Politiker vorwerfen lassen, ungenügend vorbereitet gewesen zu sein auf einen viralen Großangriff. Das erhöht die öffentliche Verschuldung, aber die Schuldenbremse im Grundgesetz ist ohnehin an Corona gestorben und die EU-Kommission hat die Defizitregeln ausgesetzt, wie es offiziell heißt, oder aufgegeben, wie das allgemeine Empfinden ist.
Europa hat Vertrauen verloren
Überhaupt Europa: In der Ordnungs- wie Geopolitik hat die EU viel an Kredit verloren. Es waren die Nationalstaaten, die auf eigene Faust gehandelt, ihre Grenzen geschlossen und wenig altruistisch darauf geachtet haben, dass Schutzkleidungen oder Fieberthermometer nicht zu den Nachbarn gingen. Die Europäische Union hat sich als nur bedingt einig und nicht wirklich handlungsfähig erwiesen. Es wird schwierig werden, neues Vertrauen in Europa zu kreieren. Dabei ist offenkundig, dass die europäischen Staaten eng zusammen arbeiten müssen, um im neualten Wettlauf gegen China, Russland oder die USA, die alle ebenfalls um ihre Gesundung kämpfen müssen, nicht endgültig den Anschluss zu verpassen.
Klimapolitik bleibt ein Thema, zumindest für die Lippenbekenntnisse. Tatsächlich wird man in den Regierungen und bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern erleichtert sein, wenn der Energieverbrauch wieder zunimmt. Das erhöht in aller Regel auch die CO2-Emissionen. Doch jetzt geht es um den kurzfristigen Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, nicht um die Frage, ob der Meeresspiegel in den kommenden 80 Jahren um einen Meter steigt oder nicht.
It's the economy, stupid
Der Wechsel der Perspektive bei diesen Themen wird zum herben Rückschlag für die Grünen. It's the economy, stupid, heißt es erneut, es kommt auf die Wirtschaft an, und zwar weltweit. In Deutschland kann die Union davon profitieren mit ihrem pragmatischen, nicht programmatischen Ansatz (den manche auch opportunistisch nennen), und ebenso die SPD: Denn jetzt steht Kärrnerarbeit an, ein wenig wie in den 1950-er Jahren. Die einstige Klientel der Sozialdemokratie erhält einen Rückruf in die Geschichte.
Doch zurück in die Bergwerke geht es nicht, die Infrastruktur steht bei allem Investitionsbedarf glänzend da im Vergleich zur Zeit nach 1945. Allerdings wird der Welthandel Jahrzehnte brauchen, bis er sich erholt hat. Die Angst vor der Globalisierung bleibt zur Freude von rechten und linken Isolationisten als Spätfolge von Covid_19. Die Menschen überall auf der Welt bestehen auf einem Zuwachs an lokaler Produktion – angefangen bei bei Pharmazeutika. Das hilft beim Reaktivieren der Ökonomie, macht die Produkte aber auch teurer.
Die positiven Folgen
Und gleichwohl gibt es auch Positives. Deutschland wird sich beim Wiederaufbau auf das Wesentliche konzentrieren können. Plötzlich kommt es wieder auf Privatinitiative an, nicht auf verschlungene bürokratische Entscheidungswege und eine allzu aufgeblasene Verwaltung. Die Marktwirtschaft wird freier, liberaler daherkommen, als sie sich seit den 1990-er Jahren präsentierte. Es braucht einen zweiten Ludwig Erhard, nicht einen Umverteiler gleich aus welcher Partei. Denn es gibt zunächst nichts mehr zu verteilen.
Wird um solche Lösungen gerungen werden? Vielleicht weniger als wir uns heute vorstellen. Die Bedrohung von außen, zur Realität geworden durch Corona, kann die schlimmsten Ausprägungen der polarisierten Gesellschaft möglicherweise überwinden helfen. Anstelle von Ideologien rechts und links treten wieder gesunder Menschenverstand und die Bereitschaft zum Kompromiss. Und die mündigen Bürger werden wachsam sein: Weder wollen sie sich einer erneuten Pandemie unvorbereitet gegenüber sehen noch nach kurzer Zeit wieder erleben, wie der Staat bürgerliche Rechte einschränkt, bis hin zu massiven Ausgangsbeschränkungen. Sie sind im Krisenjahr 2020 unumgänglich. Aber sie sollen sich nicht wiederholen.