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Gesellschaft & Kultur > Weltgeschichtliche Betrachtungen zum 8. Mai 1945

Zum 75. Jahrestag des Achten Mai

Befreiung? Aus heutiger Perspektive hat das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa eine andere Bedeutung als 1945 in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Damals wurde die Freiheit nicht von den Deutschen, sondern gegen sie erkämpft.

Zum Achten Mai nur über Deutschland nachzudenken, hieße den globalen Charakter des Zweiten Weltkriegs missachten. Das sei hier vermieden. Was ist der Historische Ort des Achten Mai? Anders gefragt: Was hat sich am und seit dem 8. Mai 1945 verändert? In Deutschland und darüber hinaus.

Bezogen auf Deutschland lautet die Frage: „War es Befreiung?" Ja, lautet die Antwort aus heutiger Sicht ethisch überzeugend – doch völlig ahistorisch, ja sogar antihistorisch. Weshalb? Weil die geschichtliche Einordnung der jeweils untersuchten Vergangenheit selbstverständlich auch, doch keinesfalls nur aus der beschreibenden und bewertenden Gegenwartssicht des jeweiligen Historikers vorzunehmen ist. Die Sicht der damals Lebenden muss ebenfalls berücksichtigt werden. Alles andere wäre unvollständig. Das ist leichter gesagt als gedacht und getan, weil oft von Einzelnen auf die Gesamtheit geschlossen wird. Doch die Damaligen dachten, meinten und fühlten so wenig einheitlich wie die Heutigen.

Mit dem 8. Mai begann die Demokratie – im deutschen Westen

War also der 8. Mai 1945 für „die“ Deutschen ein Tag der Befreiung? Aus der Sicht der heutige Riesenmehrheit „der“ Deutschen gewiss: Ja. Es war, das weiß man heute und wusste es damals nicht, der Anfang deutscher Freiheit und Demokratie – im deutschen Westen. Der wiederum war, gestärkt von „dem“ Westen, allen voran den USA, im nachfolgenden Kalten Krieg erfolgreicher als der kommunistische Osten, einschließlich DDR, deren Bürger schließlich 1989/90 freie Menschen wurden. Die Freiheit seit 1989/90 hatten tapfere DDR-Bürger erkämpft, doch auch sie wäre ohne den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, ohne den 8. Mai 1945 unmöglich gewesen. Zwar wäre dem deutschen Osten die Rote Diktatur erspart geblieben, aber Ost und West wären ns-braun geblieben, also unfrei.

Aus damaliger Sicht war der 8. Mai 1945 für die meisten gewiss keineswegs nur Befreiung. Sehr wohl und eindeutig befreit fühlten sich die NS-Opfer: die wenigen überlebenden Juden in Europa und die noch geringere Zahl der überlebenden deutschen Juden. Befreit fühlten sich diejenigen Deutschen, die wirklich Widerstand gegen die NS-Verbrecher geleistet hatten. Hand aufs Herz: Es waren wenige, zu wenige.

Viel Grau zwischen Schwarz und Weiß

Rache ist blind. Das erfuhren nicht selten gerade diejenigen, die sich zurecht von der Barbarei des NS-Regimes befreit fühlten – und von ihr wirklich befreit waren. Die rächende, raubende oder vergewaltigende Soldateska, meistens der Roten Armee, machte zwischen NS-Opfern und -Tätern keinen Unterschied. Wie jene blinde Rache sich abspielte, hat beispielhaft und bezogen auf Budapest im Januar 1945 der ungarische Schriftsteller Sándor Márai in seinem Roman „Befreiung“ bewegend beschrieben. Seine Darstellung verstört und ist zugleich heilsam, denn sie verdeutlicht, dass es zwischen Schwarz und Weiß viel Grau gab.

Die meisten Deutschen – auch außerhalb der Reichweite der Roten Armee – fühlten sich nicht befreit. Die meisten waren sicher froh, dass der Krieg, das Massentöten, vorbei war. Wer mag, kann das „Befreiung“ nennen. Viele wussten nicht – konnten nicht wissen – was sie erwartete. Wer nicht weiß, was ihn erwartet, fühlt sich nicht befreit. Dass die NS-Täter sowie die -Mittäter und Nachläufer Angst vor berechtigter Strafe hatten, liegt auf der Hand. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Das ist jedoch nicht nötig, um zu belegen, dass sich damals „die“ Deutschen, verstanden als deren große Mehrheit, eben nicht befreit fühlten. Wer allerdings heute bestreitet, dass der 8. Mai 1945 für Deutschland und die Deutschen eine Befreiung gewesen sei, wird zurecht in die NS-Ecke gestellt und hat auch nicht verstanden (oder verstehen wollen), dass die Entscheidung von Deutschen für den Nationalsozialismus eine Entscheidung für Unfreiheit und Mord anderer Völker sowie des eigenen Volk war – und wieder würde, gäbe es eine NS-Neuauflage. Das ist, der bundesdeutschen Demokratie sei Dank, ausgeschlossen.

Betrachtet man den Achten Mai 1945 nicht als Einzeldatum, sondern als Beginn einer Historischen Entwicklung gilt rückblickend und faktenbezogen diese Feststellung: Die Freiheit für die (zunächst West-)Deutschen wurde nicht von den Deutschen, sondern gegen die Deutschen erkämpft. Aus eigener Kraft konnten und wollten sie sich damals nicht befreien. Anders der Kampf der Ostdeutschen um ihre Freiheit in den späten 1980er Jahren. Auch dank günstiger historischer Rahmenbedingungen haben sie sich selbst ihre Freiheit erkämpft. Die Formel: Die Freiheit für die Ostdeutschen wurde von den Ostdeutschen errungen.

Adenauer brachte es auf den Punkt

Demografisch und ideologisch, bezogen auf die Deutschen in Deutschland, änderte sich am 8. Mai 1945 nichts. Es waren vorher und nachher dieselben Deutschen – sofern sie überlebt hatten. „Der Alte“, Adenauer, hat es unvergleichlich treffend auf den Punkt gebracht: „Das waren die Menschen. Andere gab es nicht.“ Erst allmählich vollzog sich der innere Wandel, die Verinnerlichung der Demokratie. Das bedeutet: Das Wunder der alten Bundesrepublik besteht darin, dass dieselben Menschen, also die Mehrheit derer, die zuvor Mitmacher, teils Mitverbrecher, Mittäter, Mitläufer, Schweiger, Verschweiger und Wegsehende gewesen waren, seitdem eine funktionierende Demokratie aufbauten.

So wundersam ist dieses West-Wunder allerdings nicht, denn es beruhte auf Macht. Das großartige, föderative Grundgesetz, die westdeutsche Demokratie, ist in erster Linie eine Variante der großartigen, föderativen US-Verfassung, die den Machtverhältnissen geschuldet war. Zum Segen der Deutschen und der Welt. Das bedeutet auf den 8. Mai und das Danach: Erst kommt die Macht, dann die Moral. Um so besser, wenn, wie im Falle des deutschen Westens, die Macht von den Selbstbestimmungswerten des Westens geprägt war. Auch im Osten, der DDR, galt: Erst die Macht, dann die Moral. Nur leider war die DDR-programmierende Sowjetmacht nicht moralisch. Wieder erkennen wir, dass die Westdeutschen am 8. Mai 1945 objektiv befreit wurden – obwohl sie es (die meisten) wohl subjektiv nicht so wahrnahmen.

Die bis zum 8. Mai 1945 gegen die Deutschen geführte Kampf um ihre Freiheit war nach dem 8. Mai 1945 noch lange nicht zu Ende. Auch er war erfolgreich. Auch er nur mit Hilfe der USA. Gleiches gilt für die Wiedervereinigung Deutschlands. Die USA (Präsident Bush-Vater) waren außer Spanien (Gonzales) die einzigen, welche die Wiedervereinigung vorbehaltlos befürworteten. Gorbatschows untergehende Sowjetunion musste sie hinnehmen.

Hakenkreuz und Hitlers "Zahnbürste"

Daraus folgt: Auch nach dem 8. Mai 1945 sind die aus der selbst verschuldeten deutschen Vergangenheit stammenden Vorbehalte Deutschland gegenüber wirksam. Diese Aussage gilt bis heute und sicher auch noch übermorgen. Belege bieten die Kontroversen um „Rettungsschirme“ für wirtschaftsschwache europäische Staaten während der Bankenkrise 2008/09 oder 2020 in der Corona-Krise. Die Chiffre heißt Auschwitz, Bildsymbole sind das Hakenkreuz oder Hitlers „Zahnbüste“ an der Oberlippe. Wer das heutige, demokratische Deutschland in die politische Defensive drängen möchte, bedient sich ihrer. Inzwischen ist dieses Instrument inflationiert, doch immer noch, zumindest teilweise, wirksam.

Diese auch dem heutigen, demokratischen Deutschland gegenüber wirksamen Vorbehalte sind, wie eh und je, ein Instrument der Selbstamnestie von Staaten, in denen die Kollaboration der Einheimischen mit den deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkriegs ausgeprägt war. Der Tod war „ein Meister aus Deutschland“, aber er hatte viele freiwillige, nichtdeutsche Helfer. Das wiederum entschuldigt kein einziges der von Deutschland ausgehenden Verbrechen.

Das ist die eine Seite der Medaille: Die Erfahrung bis zum und seit dem 8. Mai 1945 lehrt leider: Erst kommt die Macht, dann die Moral. Daraus folgt, ebenfalls leider und leider auch nicht allein auf Deutschland bezogen: Kultur und zivilisatorische Errungenschaft, die den Menschen vor dem Menschen schützen, sind unter ungünstigen Machtverhältnissen nur Firnis, eine dünne Schutzschicht.

Der Weltkrieg ging in Asien weiter

Deutsche und Europäer vergessen leicht, dass der 8. Mai 1945 nicht das Ende des Weltkriegs war. In Asien hatte er, recht besehen, mit der japanischen Aggression gegen China am 7. 7. 1937 begonnen. Im Mai 1945 tobte noch immer die Schlacht um Japan und seine damals immer noch großen Besatzungsräume. Erst am 2. September 1945 kapitulierte Japan. Diese Kapitulation war zwar das Ende des Weltkrieges, doch zugleich der später erfolgreiche Neuanfang antikolonialistischer Kriege. Zum Beispiel in Südostasien und Indonesien. Diese und andere antikolonialistischen Befreiungskriege oder -kämpfe (be)trafen weit über 1945 hinaus neben den Niederlanden (Indonesien) auch die westeuropäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich, und zwar auf dem indischen Subkontinent in Nahost und Afrika. Dabei kam es zum „Zauberlehrling“-Effekt. Die Geister, die sie riefen, wurden die Kolonialmächte nicht los. Frankreich und Großbritannien mobilisierten in ihren Kolonien Kämpfer für einen Krieg, der die Kolonisierten nichts anging, und behandelten diese Menschen darüber hinaus wie Ware. Was Wunder, dass sie nach dem Krieg nicht mehr bereit waren, sich länger fremdbestimmen zu lassen. Dass sie im Ergebnis die Fremdbestimmung durch echte Fremde meistens gegen die Fremdbestimmung durch ihre „Brüder“ tauschten, ist zugleich Tragik und Ironie der Geschichte.

Innerwestliche Bruchstellen im Kalten Krieg

Ähnlich und doch anders die indischen Nationalisten und Gandhis Gegenspieler Subhash Chandra Bose. Seine „Indian National Army“ war zunächst der Waffen SS unterstellt und wurde dann eine Hilfstruppe Japans.

Bezogen auf die Kolonialmächte erkennen wir geschichtsethisch die Dialektik der Befreiung aus einer anderen Perspektive: Die objektiven Mit-Befreier der Deutschen, also Großbritannien und Frankreich, Großbritannien und Frankreich, waren woanders die Unterdrücker, von denen sich die Unterdrückten befreien wollten. Die USA, Hauptbefreier der Deutschen, standen im antikolonialistischen Kampf, besonders in Nahost, nicht auf Seiten der Kolonialmächte England und Frankreich, mit denen sie im Weltkrieg sowie im Kalten Krieg verbündet waren. Das bedeutet: Im Kalten Krieg gab es durchaus auch innerwestliche Bruchstellen.

Die Qualität der Moralität der sich Befreienden war ebenfalls nicht makellos. Beispielsweise arabische Nationalisten hatten den Schulterschluss mit Hitler-Deutschland gesucht und gefunden. Nach 1945 fanden alte NS-Kämpfer nicht nur Unterschlupf vor allem in Ägypten und Syrien. Sie beteiligten sich bis weit in die 1960er Jahre am neuerlichen Versuch einer „Endlösung der Judenfrage“. Diesmal in Nahost, gegen den Jüdischen Staat, Israel.

Die antagonistische Kooperation des Westens

In herkömmlichen Geschichtsbetrachtungen folgt dem Zweiten Weltkrieg der Kalte Krieg zwischen West und Ost bzw. dem demokratischen Westen und der Sowjetunion mit ihren Satelliten. Diese Sichtweise ist falsch. Richtig ist, dass der Ost-West-Konflikt bzw. Demokratien versus Kommunistische Diktatur mit der Russischen Oktoberrevolution begann, also 1917. In den Weltkriegsjahren ergab sich wegen und gegen Hitlers Deutschland zwischen 1939 und 1945 und im Sommer 1945 gegen Japan eine „antagonistische Kooperation“ (Mao) des Westens mit der Sowjetunion. So gesehen und allein auf den Konflikt Demokratie versus kommunistische Diktatur, war der Zweite Weltkrieg nur ein Intermezzo.

Unter anderen Vorzeichen als das deutsche Kaiserreich und dann doch wie dieses vollbrachten Hitler und seine Mitverbrecher das selbstverschuldete „Kunst“stück eines Mehrfrontenkrieges, in dem Deutschland gegen fast die ganze Welt kämpfte, weil es sich dünkte, „über alles in der Welt“ zu sein. Zum und am 8. Mai gibt es eine entscheidende Lehre: Deutschland ist ein großer, gewichtiger Staat. Es ist (wem sei Dank?) nicht groß und gewichtig genug, um Europa oder gar die ganze Welt zu beherrschen. Deutschland war, ist und bleibt auf gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit angewiesen. Was für ein Glück!

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Von dem Historiker und Publizisten Prof. Dr. Michael Wolffsohn, 2017 vom Deutschen Hochschulverband zum "Hochschullehrer des Jahres" ausgezeichnet, ist soeben das Buch erschienen:. „Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“ (Herder Verlag, 320 S, 26 €)

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