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Gesellschaft & Kultur > Warum die Europapolitik nach diesem EU-Gipfel neu gedacht werden muss

Warum die EU neu gedacht werden muss

Nicht mehr Visionen bestimmen die Europapolitik, sondern der Pragmatismus des kleinsten gemeinsamen Nenners. Über die Gründe dafür müssen wir uns ebenso klar werden wie über die Alternativen zum Status quo

Mark Rutte, Angela Merkel und Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron beim EU-Gipfel, Foto: Picture Alliance
Mark Rutte, Angela Merkel und Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron beim EU-Gipfel, Foto: Picture Alliance

Wenn Politiker, zumal Deutsche, über die Europäische Union reden, glaubt man in ihren Äußerungen regelmäßig ein „Freude schöner Götterfunken“ im Hintergrund zu vernehmen. Euphorisch kommentieren sie selbst den Blick in den Abgrund des Scheiterns, wie er beim jüngsten Mammutgipfel vorübergehend drohte.

„Die Europäische Union zeigt, dass sie auch in der schwersten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte in der Lage ist, entschlossen und solidarisch zu handeln“, lobte Außenminister Heiko Maas und sprach vom „starken Fundament“ der Gemeinschaft. Süße Harfenklänge schlug EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen an: Europa habe immer noch den Mut und die Fantasie, groß zu denken. Und: „Wir sind uns bewusst, dass dies ein historischer Moment in Europa ist.“

Ein wenig Moll brachte die Bundeskanzlerin, ihrem Wesen entsprechend, in den Chor. „Das war nicht einfach“, sagte Angela Merkel, für sie zähle aber, „dass wir uns am Schluss zusammengerauft haben“. Ein "neues Europa“ bejubelt denn auch die „Zeit“ ob der Einigung und der Tatsache, dass die EU-Kommission zur Bewältigung der Corona-Krise erstmals selbstständig Schulden aufnehmen darf.

Wer es mehr mit Fakten hält, weiß, dass die Europäische Union selten so wenig entschlossen und solidarisch war. Der Kompromiss zwischen den „sparsamen Vier“ im Norden und den die Hand aufhaltenden Ländern im Süden, namentlich Spanien und Italien, wurde mit vielen Zugeständnissen und Rücksichtnahmen erkauft. Auch die Vorstellungen von Polen, dem weiterhin größten Nettoempfänger in der EU, oder Tschechien zur Rechtstaatlichkeit unterscheiden sich erheblich von den bisherigen EU-Standards. Merkel und Emanuel Macron, deren Plan für nicht rückzahlbare Zuwendungen von 500 Milliarden auf 390 Milliarden Euro heruntergestutzt wurde, mussten lernen, dass die kleineren Länder nicht mehr „einfach das abnicken, was Deutschland und Frankreich vorlegen“, wie es Österreichs Kanzler Sebastian Kurz als einer der Gipfel-Sieger formulierte. Allerdings kommen Kredite bis zu einer Höhe von 360 Milliarden Euro hinzu, so dass es nun um ein 750-Milliarden-Paket geht. Außerdem wurde der siebenjährige mittelfristige Finanzrahmen (MFR) in Höhe von gut einer Billion Euro verabschiedet.

Nicht Solidarität, sondern Pragmatismus obsiegte

Doch dass am Ende des längsten EU-Gipfels das mit 1,8 Billionen Euro größte Haushalts- und Finanzpaket in der Geschichte der Gemeinschaft stand, ist nicht ein Ausweis von Solidarität, sondern allenfalls von vernünftigem Pragmatismus.

Der zweite Punkt: Seit Maastricht war die No-Bail-Out- oder Nicht-Beistandsklausel die Seele der EU. Sie sollte jeden Staat zu einer soliden Haushaltsführung zwingen durch die Vereinbarung, dass ihn die Partner nicht aus einer Verschuldung heraushelfen werden. Mutmaßlich musste man in der aktuellen beispiellosen Krise dieses Prinzip lockern – obgleich insbesondere Italien keineswegs nur durch Corona in die Problemzone gestürzt ist, sondern vor allem wegen seiner Unwilligkeit zu Reformen. Darum hat Friedrich Merz recht: „Die Aufnahme von Schulden durch die EU, die von den Mitgliedsstaaten garantiert wird, bewegt sich hart am Rande der Regeln des EU-Vertrages.“

Man sähe dieser Entwicklung in schwierigen Zeiten gelassener zu, hätte man den Eindruck, beispielsweise Rom würde ernsthafte Reformen angehen, um seine Verschuldung unter Kontrolle zu bringen. Doch die auch in Berlin pflichtschuldig beklatschten Ankündigungen von Ministerpräsident Giuseppe Comte zu einer „Neuerfindung Italiens“ beinhalten zwar löbliche Ziele wie die (nicht erstmals versprochene) Verschlankung der Bürokratie, die Einleitung einer Energiewende und die stärkere Integration von Frauen in Spitzenpositionen. Den Haushalt in den Griff bekäme Rom aber nur, wenn es beispielsweise seine Rentenpolitik der steigenden Lebenserwartung anpasst. Stattdessen hat die damalige populistische Regierung 2018 das Renteneintrittsalter sogar nach unten gesenkt. Italiener (und vor allem Italienerinnen) gehen früher in den Ruhestand als die Deutschen und bekommen eine höhere Rente. Das ist für die Betroffenen erfreulich und soll gern jedes Land für sich entscheiden können. Aber es verträgt sich nicht mit der Erwartung, dass Rentner aus anderen Ländern auch mit ihren Steuern den längeren italienischen Lebensabend bezuschussen.

Bleibt es bei der absoluten Ausnahme?

Bewegt sich die EU in Richtung einer Transfer- oder Schulden-Union? Es handele sich um eine einmalige Ausnahme, die Corona geschuldet sei, versichern Politiker und Unterhändler im Auswärtigen Amt. Und wer gesehen hat, wie bei dem Gipfel gefeilscht wurde, wird kaum davon ausgehen, dass eine solche Operation beliebig wiederholbar ist. Klar ist aber auch, dass die EU-Kommission durch die Lizenz zur Schuldenaufnahme ein größeres Selbstbewusstsein und mehr Macht bekommen hat – sie wird von dieser hinzugewonnenen Kompetenz nicht mehr Abschied nehmen wollen. Darum könnte die nächste „absolute Ausnahme“ eben doch recht bald an die Pforten der Hauptstädte klopfen. Nationale Regierungen, die der Kommission dann dieses Recht bestreiten, dürften rasch in die rückwärtige, „gestrig-nationalstaatliche“ Ecke gerückt werden, während der Forderung nach einer Aufwertung Brüssels gegenüber Berlin, Paris, Prag, Rom, Den Haag, Warschau oder Stockholm das Image der Modernisierung anhaften wird. Und das wäre es ja auch, weil in einer Welt, in der jedes historische Konstrukt, vom Stamm über Zweckallianzen bis zum Imperium, irgendwann überwunden wird, natürlich auch der Nationalstaat nicht ewig existieren kann. Dennoch ist sehr zu bezweifeln, dass diese Moderne in den kommenden Dekaden oder in diesem Jahrhundert erreichbar ist. Denn wenn die Menschen in den reicheren EU-Staaten diesen Weg in eine Transfer-Union mitgehen, müssten sie notwendigerweise mehr als bislang von ihrem Wohlstand abgeben. Machen die Skandinavier das mit? Die Niederländer? Die Deutschen? Selbst Merkel war ja noch im Mai auf dem Kurs der "sparsamen Vier", dann steuerte sie gemeinsam mit Macron auf den neuen Kurs. Oder gibt es mittelfristig nur noch diese Alternative: entweder die EU als Umverteilungs-Union – oder gar keine Europäische Union mehr?

Skeptiker argwöhnen, Geld sei der letzte gemeinsame Wert aller EU-Mitglieder. Das wäre ein dramatischer Befund. Denn die Europäer brauchen ein organisiertes Europa, wenn sie im geopolitischen Wettbewerb noch als Subjekt mitspielen wollen – und nicht zu einem Objekt werden möchten, das von anderen behandelt wird. Die Gefahr, dass Europa zur quantité négligeable wird zwischen den gern totgesagten, aber gleichwohl weiterhin vormächtigen (und demokratischen) USA und der neualten (kommunistisch-autoritären) Weltmacht China sowie einem neoimperialen Russland, lässt sich nicht von isoliert agierenden Nationen bannen. Aber eben auch nicht von der EU, wie sie sich in den 63 Jahren seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG entwickelt hat.

Deutschlands hohe Zahlungen in die EU-Kassen

Wenn die Europäer zusammenwachsen müssen, aber es die Vereinigten Staaten von Europa in absehbarer Zeit nicht geben wird (und auch keine weiteren Politikfelder via Mehrheitsentscheidung, wie dieser Gipfel dem letzten Träumer gezeigt haben dürfte), dann muss umgedacht werden. Vor allem bedarf es der Ehrlichkeit, dass die EU für die nächsten Jahre von Kompromissen leben wird, nicht von einer gemeinsamen Vision in Paris und Prag, Helsinki und Rom.

Und Berlin? Die Deutschen zahlen deutlich mehr als alle anderen Staaten in den EU-Aufbaufonds ein. Nach Schätzungen der EU-Kommission werden es ab 2021 in drei Jahren 133,3 Milliarden Euro sein – also fast so viel, wie die beiden größten Empfänger Spanien (82,8 Milliarden Euro) und Italien (56,7 Milliarden Euro) ihm entnehmen werden. Der zweitgrößte Zahler Frankreich bleibt mit 52,3 Milliarden Euro auf sehr sicherem Abstand. Aber Deutschland profitiert als Exportweltmacht auch mehr als jedes andere EU-Land von Europa und vom Euro, der „weichgespülten D-Mark“, wie die Währung im Weißen Haus in Washington bezeichnet wird. Das große Problem: Die Nachteile, nämlich die Zahlungen in die EU-Kassen, lassen sich in Euro und Cent benennen. Der Vorteil des gemeinsamen Marktes und der gemeinsamen Währung hingegen ist nur vage zu beziffern. Darum wird in Deutschland die Stimmungsmache gegen Europa leichter, je höher die Lasten für den Steuerzahler werden. Die AfD jedenfalls steht allzeit bereit.

Wenn wir also Europa brauchen, aber die EU künftig eher weniger als mehr Integration bieten wird, dann muss über neue Formen supranationaler Interessenwahrnehmung nachgedacht werden. Nicht mehr die Idee der gleichzeitigen Integrationsvertiefung in allen 27 Mitgliedsländern sollte im Vordergrund stehen, sondern die Idee sich ergänzender konzentrischer Kreise. Wenn einzelne Regierungen beim Aufbau einer gemeinsamen Sicherheitspolitik oder der Bildung einer europäischen Armee vorangehen möchten, sollen sie dies tun, und wenn andere ihre sozialpolitischen Standards aufgrund ähnlicher Wohlstandsverhältnisse verknüpfen wollen, müssen sie nicht warten, bis die übrigen sich ihrer Initiative anschließen wollen oder können. Grundbedingung müsste nur sein, dass jedem EU-Mitglied ein Beitritt offen stehen muss, wenn es bestimmte Kriterien erfüllt. Ein Europa vieler unterschiedlicher Geschwindigkeiten ist realistischer als ein gemeinsamer Ansatz in allen Disziplinen für alle.

Europa ist in den letzten Jahren zu sehr zu einer Floskel verkommen. Der Gipfel hat in schockierender Deutlichkeit gezeigt, dass nicht der große Wurf zu erwarten ist, sondern bis auf weiteres der kleinste gemeinsame Nenner die EU-Agenda diktieren wird. Ein Infragestellen oder gar die Auflösung der Union wäre die schlimmste Antwort darauf. Europapolitik muss schlicht wieder kreativ werden, wie in ihren Anfängen. Dann würde die Bühne besser passen zu Beethovens dort zelebrierter "Ode an die Freude".

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