Chinas repressives Social Credit System macht den Bürger zum Untertan
Wenige intellektuelle Neuheiten aus China haben in den vergangenen Jahren so viel Aufmerksamkeit in der internationalen Debattenkultur auf sich gezogen wie das umstrittene Social Credit System (SCS), das den Bürgern Punkte für gutes Benehmen geben will. Von Claudia Simone Dorchain.

Das Social Credit System (SCS) wurde bereits am 14.06.2014 vom chinesischen Staatsrat beschlossen und sollte bis Ende 2020 eine verpflichtende Instanz für die etwa 22 Millionen Bewohner von Beijing sein, zudem auch ein Pionier-Modell für vergleichbare Systeme überall in China. Vorausschauende Denker befürchten, dass dieses Punktevergabesystem nichts mehr mit einem Demokratieverständnis, Ethik und Menschenwürde im Sinn der europäischen Ideengeschichte zu tun hat und sich dennoch in Europa replizieren ließe. Doch was ist eigentlich das streitbare SCS, welchen Grundideen folgt es, inwiefern ist es ideell in der chinesischen Kultur beheimatet und welche Sprengkraft hätte seine Implementierung bei uns in Europa? Dieser Essay soll anhand der Analyse der chinesischen Wissenschaftlerin Chenchen Zang und ihrem 2020 in dem stark beachteten Kompendium „Critical Asian Studies“ erschienenen Artikel „Governing through trustworthiness“ die alten Beziehungen zwischen SCS und chinesischer Kulturhistorie zeigen und erklären, inwiefern eine solche aktualisierte Tradition völlig wesensfremd wäre in Europa. Zuletzt soll hierbei beleuchtet werden, inwieweit eine Einführung des SCS in Europa nicht nur den Werten der Aufklärung direkt widerspricht, sondern auch den Bürger selbst vom einst mündigen Rechtssubjekt hin zum zukünftig fremdbestimmten Befehlsempfänger, ja zum unmündigen Kind degradiert und schrittweise immer stärker demoralisiert.
Das Social Credit System (SCS): Punkte sammeln für die Bürgerrechte
Das sogenannte Sozialkredit-System (SCS) ist am 14.06.2014 vom chinesischen Staatsrat verabschiedet worden mit einer klaren Entwicklungsaussicht für die Zukunft: bis Ende 2020 sollte es verpflichtende Norm für die rund 22 Millionen Bewohner von Beijing sein, sowie auch ein Vorläufer ähnlicher Modelle überall auf dem chinesischen Festland. Die Vorgehensweise ist, personenbezogene Daten von privaten Bürgern, aber auch von Unternehmen, Firmen und Organisationen (NGOs) zu sammeln, sie in einer Summe auszuwerten und in der Konsequenz zu definieren, in welchem Maße die natürliche oder juristische Person moralisch integer und somit vertrauenswürdig sein sollte. Der Zweck dieses Vorgehens sei es laut Aussagen des chinesischen Staatsrats, die Aufrichtigkeit der Bürger zu steigern, doch seit der Einführung dieser angeblich tugendstärkenden Methode wird auch Kritik am SCS laut, da dieses System effektiv eine Art der totalen Bevölkerungskontrolle darstellt. In der Praxis des SCS werden Punkte für Verhaltensweisen gegeben, die der kommunistischen Partei Chinas angenehm sind, wohingegen Strafpunkte für rebellisches Verhalten vergeben – wozu auch schon ein nicht regierungsaffiner Kommentar auf Social Media gehören kann. Dieses Punktsummenspiel kann sich rasch zum Nullsummenspiel für unabhängige Denker entwickeln: Kritiker des Systems werden bei der Vergabe von Studienplätzen und Arbeitsangeboten übergangen, haben also weniger Aussichten auf Wohlstand und Freiheit. Aufgrund der Aktualität und möglichen Übertragbarkeit auf Europa stellt sich die Frage: Ist ein System wie das SCS noch mit Moral vereinbar, oder bloße Dressur?
Der gläserne Bürger oder: Regieren auf Vertrauensbasis?
Eine, die sich dieser Frage gewidmet hat, ist Chenchen Zang. Die an der Queen´s University in Belfast arbeitende chinesische Sozialwissenschaftlerin befasst sich in ihrem international rezensierten Aufsatz „Governing through trustworthiness“, der 2020 im Sammelband „Critical Asian Studies“ erschienen ist, engagiert mit dem SCS.[1] Ihre Arbeitsgrundlage stellen dabei Studien der chinesischen Regierung dar, die zugleich als Quellen zur Untermauerung ihrer Argumente dienen. Ihre Position ist hierbei klar: abgesehen von einem kurzen Bedauern seitens der Autorin, dass das Programm in Großstädten wie Beijing und Shanghai noch nicht in jeder Hinsicht implementiert sei, also der wissenschaftlichen Analyse im Sinn einer Ex-post-facto-Erörterung[2] noch nicht zugänglich sein könne, befürwortet sie das SCS vollends und sieht darin sogar große Vorteile.[3] Die Frage, ob das Punktevergabesystem für bürgerliches Verhalten mit Moral vereinbar sei, beantwortet sie vehement mit Ja. Sie zitiert die chinesische Regionalverwaltung von Shanghai wörtlich, die aussagte, das SCS habe die Aufgabe, das Verhalten der Bevölkerung vollumfänglich zu supervidieren: “the behavior and status of a natural person with full capacity for civil conduct, legal person, or other organizations complying with their legal or contractual obligations in social and economic activities.”[4] Wer im Westen diese Zielsetzung nicht verstünde, lässt sich Zang interpretieren, sei unverständig, was die Vorteile einer solchen Steuerung betrifft, die ihres Erachtens sogar auch Vorläufer in der chinesischen Philosophie habe, und leide überhaupt unter einer typisch europäischen Krankheit: der Lust zu übertreiben.
Biopolitische Macht und staatliche Seelsorge oder Zwangsbeglückung des „homo moralis“
Zang behauptet, Punkte vergebende soziale Systeme speisten sich inhaltlich aus zwei unterschiedlichen machtbezogenen Aspekten: „governmental/ biopolitical power“ und „disciplinary-pastoral power“.[5] Diese beiden Aspekte, angeblich erfolgreich vereint im SCS, entstünden aus zwei unterschiedlichen Motiven seitens der Regierung: die regierungsbezogene und biopolitische Macht des SCS wolle Bürger und Betriebe zu einer unbedingten Zustimmung zu Regierungsplänen und Verwaltungsnormen, die vordergründig mit dem Gemeinwohl zu tun haben, bringen.[6] Beim zweiten Aspekt, disziplinierender seelsorgerischer Macht, ginge es laut der chinesischen Autorin darum, menschliches Verhalten auf allen Ebenen und in jeder sozialen Situation wunschgemäß zu konditionieren. Zang beschreibt die beiden Menschenbilder, die der Konditionierung nach den biopolitischen und seelsorgerischen Aspekten zu Grunde liegen, geradezu poetisch als „homo oeconomicus“ und „homo moralis“.[7]
Moral-Chinesisch: xinyong, zhengxin und chengxin – Der Ehrenwerte hat Geld und Status
Zang interpretiert diese biopolitisch-moralische Steuerung als eine logische Folge traditioneller chinesischer Werte. Ihrer Auffassung nach bewegt sich das SCS in einem Flussbett der Tradition alter, großer Moralauffassungen aus dem Reich der Mitte und setzt sich kraftvoll fort – vergleichbar, wie sich die europäische Mystik im Flussbett neuplatonischer und gnostischer Philosophien bewegt und diese überformt hat. Doch stimmt das auch? Welche Traditionen sollen das überhaupt sein? Die Autorin nennt hier die chinesischen Begriffe xinyong, zhengxin und chengxin, die auf Deutsch etwa so viel heißen wie „finanzielle Liquidität“ und „charakterliche Integrität der Person“.[8] Es trifft zwar zu, dass diese Begriffe eine große Rolle in den chinesischen Klassikern und in der ideellen Bewusstseinsprägung vieler Generationen schon lange vor Mao Zedongs Kulturrevolution spielten: finanzielles Wohlergehen und bürgerschaftliches Ansehen waren im alten China gern miteinander verbunden. Allerdings muss man feststellen, dass Zang sich irrt, wenn sie im Hinblick auf das traditionale Gespann von Geld und Moral einen Kausalitätszusammenhang unterstellt, etwa im Sinne von „wer ehrenhaft ist, wird schnell reich“ oder gar „wer sich gut verhält, darf reich werden“. Die chinesischen Klassiker lesen sich nachweislich nicht wie Max Webers Schrift zum Leistungsethos, die Gottesfurcht mit Reichwerden assoziiert, in Mandarin übersetzt. Dass Zang zur Argumentationshilfe Jack Ma, den Gründer der globalen „Ali Baba“ Firma zitiert: “let the trustworthy get rich first”[9], korrigiert auch nicht den Denkfehler.
Chinesische Ideengeschichte neu interpretiert
Denn was gehört sachlich betrachtet zum Kanon der chinesischen Klassik? Zweierlei: große chinesische Romane und grundlegende religiös-philosophische Traditionen, der Daoismus und der jüngere Konfuzianismus. Zunächst zu den großen Romanen: Werke wie „Die Rebellen vom Liang Shang Po“ oder das „Kin Ping Meh“, die zu den Klassikern der sinologischen Literatur gehören, zeigen ohne Zweifel, dass Wohlstand auf Verbrechen aufgebaut sein kann und dass, vor allem, Moral der Freiheit bedarf. Hier wird der „homo moralis“ eher karikiert, ähnlich wie in Friedrich von Schillers Drama „Die Räuber“. Nun zu den Religionen: Lao-Tse, der legendäre Gründer des Daoismus, hält jede standardisierte Moral für einen Untergang der Vernunft,[10] und Konfuzius, sein berühmter Schüler und Begründer des Konfuzianismus, beharrt zwar auf Riten, aber immer auch auf der freiwilligen kreativen Schulung des Charakters. Konfuzius und Punktevergabe sind keine fortgesetzte geschichtliche und ideelle Traditionslinie – es ist vielmehr der sophistische Versuch, nachträglich eine fiktive Tradition zu erfinden, um gegenwärtige Entwicklungen wie das SCS scheinbar zu legitimieren.
Gegen Kohlbergs Gewissensentwicklung: Die Infantilisierung der Moral
Der wahrscheinlich fatalste Effekt des SCS geht jedoch über die fatale Verkettung von Punktzahlen und sozialen, karrieristischen und gesellschaftlichen Chancen[11] hinaus: es handelt sich um die langfristige und irreparable moralische Degradierung aller Bürger. Mit einer Degradierung ist gemeint, dass ein Entwicklungsniveau nicht oder nur bedingt erreicht werden kann. Ein Punktevergabesystem kann eine moralische Zerrüttung hervorrufen. Diese moralische Degradierung ist jedoch zugleich auch eine Infantilisierung, denn der Bürger wird so nicht nur zu einer Art Zustimmungsmaschine erniedrigt, sondern auch in seiner Gewissensentwicklung faktisch auf den Stand eines Sechsjährigen zurückgestellt. Denn was die Gewissensentwicklung angeht, gibt es im menschlichen Leben bestimmte Stationen, die jeder seelisch Gesunde durchläuft. Der US-amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg beschrieb, dass sich das, was wir Gewissen nennen, durch einen stetigen Prozess entfaltet: von der kindlichen Angst vor Strafe und dem Suchen nach Belohnung über die jugendliche Orientierung an Anderen als Vorbildern bis hin zum Verständnis universeller ethischer Prinzipien im Erwachsenenalter.[12] Er nennt diese drei Ebenen auch die präkonventionelle, die konventionelle und die postkonventionelle Moral und unterteilt sie nochmals, so dass er zu sechs Stufen der Moralentwicklung gelangt, die ein Mensch gewöhnlich bis zur Reife durchläuft. Wo rangiert das autoritäre Punktevergabesystem SCS innerhalb dieser Klassifikation der stufenweisen Gewissensentfaltung? Auf der niedrigsten Stufe, der präkonventionellen Moral, die sich nur an Strafe und Belohnung orientiert und keinen Sinn für höhere moralische Werte hat. Der gegängelte Bürger könnte derart keinen Sinn mehr für Eigenverantwortung oder übergeordnete Ideen wie Sozialvertrag und Ethik entfalten. Das Fixieren auf der präkonventionellen Ebene ist individuell wie gesellschaftlich offenbar ein Rückschritt: als gezielte psychologische Rückentwicklung für den Einzelnen sowie als zukünftige Verunmöglichung begründeter Mitbestimmung und Kritik für ganze Gesellschaften. Ist das eine ethische Perspektive für Europa?
[1] Chenchen Zhang (2020): Governing (through) trustworthiness: technologies of power and subjectification in China’s social credit system, Critical Asian Studies, DOI: 10.1080/14672715.2020.1822194
[2] Erörterung nach abgeschlossenen Tatsachen
[3] Zang, a.a.O., S.2
[4] Ebd., S.3
[5] Ebd., S. 1
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd., S.7
[9] Ebd., S.15
[10] Vgl. Laotse: Tao Te-King. übers. u. hrsg. von Richard Wilhelm. Eugen Diederich, Leipzig 1910, Marix, Wiesbaden 2004, Kap. 38
[11] Vgl. Zang, a.a.O., S.11
[12] Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996