„Die Taliban sind in Afghanistan nicht umstritten“
Artikel vom
Unter den Migranten in Deutschland sind Menschen aus Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban wieder eine große Gruppe. Sultan Masood Dakik ist einer der wenigen von beiden Seiten respektierten Vermittler zwischen afghanischer Führung und deutscher Regierung. Er sieht die einzige Chance für das Land darin, ein Bildungssystem – aufzubauen auch für Frauen. Von Beatrice Bischof

Herr Dakik, Afghanistan ist ein schwieriges Thema, sollte man es dennoch ansprechen?
Ja unbedingt. Afghanistan und seine Probleme stehen nach dem Abzug der westlichen Staaten vor etwas über zwei Jahren nicht mehr im Fokus der medialen und politischen Wahrnehmung. Die Zivilbevölkerung des Landes benötigt dringend Hilfe, sowohl für die Bekämpfung der Alltagsprobleme, als auch bei medizinischen Versorgung.
Wie ist die Lage in Afghanistan aus Ihrer Sicht derzeit?
Seit die westlichen Staaten ihre physische militärische Präsenz beendet und die bis dahin amtierende Regierung in Afghanistan faktisch zusammengebrochen ist, bestimmen die Taliban wieder das politische Geschehen in Afghanistan. Für die Zivilbevölkerung insbesondere in ländlichen Gebieten führte dies bei den Schwächsten der Gesellschaft, wie Witwen, Waisen und Behinderten zu Hunger und Not. Während im Winter Temperaturen von minus 25° bis 30° C erreicht werden, bestimmt im Sommer eine monatelange Hitze das tägliche Leben. Der Klimawandel kommt auch bei den bedürftigen Menschen an. Ein zusätzliches Problem ist die mangelnde medizinische Versorgung. Auch wenn es in der medialen Darstellung anders erscheinen mag, sind die Taliban bei der Bevölkerung in Afghanistan nicht umstritten und gar beliebt. Außenpolitisch ist die Regierung Afghanistans zudem isoliert.
Was sind die Fehler der Vergangenheit, die zu dem derzeitigen Zustand führten?
Wäre es in den letzten 20 Jahren gelungen, den Staatsaufbau soweit voranzutreiben, wie wir ihn in den westlichen Staaten verstehen, mit Verwaltung, Justiz, einem funktionierenden Polizeiapparat, insbesondere Mechanismen, die eine Abschaffung oder Neutralisierung erschweren, sähe die Situation in Afghanistan heute anders aus. Was man in der Vergangenheit verkannt hat, ist die kulturelle Dynamik: Seit dem Fall des Baraksai-Regimes in Afghanistan im Jahr 1978 durch die Saur-Revolution und der daraus folgenden Invasion der Sowjetunion, ist Afghanistan ein Land, das wechselvolle Jahre mit unterschiedlichen und häufig auch gegensätzlichen geopolitischen Interessen erlebt hat. Es reichte nicht aus von außen neue Strukturen zu implementieren und zu glauben, dass die Bevölkerung dann schon mitziehen werde. Gut ein Jahr vor dem Abzug der Amerikaner und der Bundeswehr aus Afghanistan im August 2021 habe ich - vergeblich - angemahnt, dass es eine Exit-Strategie geben müsse, damit das in 20 Jahren Erreichte nicht alles wieder verloren geht. Insofern war, auch wenn dies teilweise anders erscheinen mag, insbesondere der deutsche Einsatz in Afghanistan, nach meiner Ansicht erfolgreich. Es wurde Infrastruktur aufgebaut, Bildungsangebote wurden geschaffen, die Wirtschaft entwickelt, die Sicherheit verbessert, und der Drogenanbau eingedämmt. Doch ging das, wie eingangs erwähnt, eben nicht weit genug. Das ist auch das vorläufige Ergebnis der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das zukünftige vernetzte Engagement Deutschlands“ unter der Leitung von Michael Müller, dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin.
Was wäre der richtige Ansatz Ihrer Meinung nach?
Die einzige Chance des Landes liegt darin die Bildung im Land flächendeckend und traditionsgemäß voranzutreiben, welches auch die Bildung für Frauen einschließt. Der harmonische Einklang zwischen Frauenrechten auf der einen Seite und der Tradition auf der anderen Seite herrschte auch schon vor dem Krieg im königlichen Baraksai-Regime. In dieser Zeit studierten Frauen und bauten das Land mit auf. Grundsätzlich widerspricht dies auch nicht dem Islam, da selbst die Frau des Propheten, Khadijah, sich in einer Männerdomäne wie Mekka als eine erfolgreiche und unabhängige Geschäftsfrau behauptete. Weiter gilt es Afghanistans wirtschaftliches Potenzial als das Saudi-Arabien der Mienenindustrie und als die geopolitische sowie neutrale Schweiz Südasiens im Hinblick auf das Gleichgewicht zwischen iranischer, zentralasiatischer, indischer und chinesischer Hochkultur zu würdigen.
Worauf sollten wir zusteuern, was könnte das Ziel sein, mit welchen Mitteln können wir das erreichen?
Der Westen muss mit den Taliban Dialoge im oben genannten Sinne führen. Freilich soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass Afghanistan seit dem militärischen Rückzug des Westens von dort überhaupt keine Hilfe mehr bekommt. Insofern möchte ich lobend die finanzielle Unterstützung des Westens, insbesondere die USA, erwähnen. Diese im Zusammenspiel mit dem notwendigen Dialog, unter Berücksichtigung der traditionellen und kulturellen Besonderheiten des Landes Afghanistan, werden die Situation der dortigen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern und das Land somit geopolitisch zu stabilisieren.
Zur Person
Sultan Masood Dakik, 1967 in Afghanistan geboren. Er gehört väterlicherseits zum Telai-Zweig der Baraksai Dynastie. Mütterlicherseits stammt er in der 31. Generation in direkter Blutlinie vom Propheten Mohammed ab. 1984 kam er im Alter von 16 Jahren nach Deutschland und erhielt 1995 die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit vielen Jahren engagiert er sich als Projektmanager mit Schwerpunkt in den Bereichen Öl und Gas sowie erneuerbaren Energien mit einer bedeutenden Präsenz im Bereich der Annäherung zwischen Orient und Okzident. Ein Tätigkeitsschwerpunkt betrifft den Know-how-Transfer und die Initialisierung geschäftlicher Kooperationen wie Joint-Venture-Gründungen. Er fungierte auch als Spezialist für Länder im Bereich Entwicklung und berät verschiedene entwicklungspolitische Institutionen. Sein humanitäres Engagement führte dazu, dass ihm im Jahre 2015 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde. Aufgrund seiner Herkunft gehört Sultan Masood Dakik zu den wenigen Personen, die von den Taliban als Gesprächspartner respektiert und anerkannt werden, ohne dass in ihm ein Gesandter von Vertretern einer aus ihrer Sicht feindlichen Ideologie gesehen wird.