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Gesellschaft & Kultur > Risiken und Nebenwirkungen der Corona-App

Apparat zur Massenüberwachung wird weltweit ausgebaut

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Während das Coronavirus um den Globus geht, bauen Regierungen weltweit ihren Apparat zur Massenüberwachung aus. Contact-Tracing-Apps gelten auch hierzulande als Weg aus dem Lockdown. Um welchen Preis?

Mobile-Phone-Virenerkennungs-App, Corona App, Shutterstock
Mobile-Phone-Virenerkennungs-App, Corona App, Shutterstock

Welche Gedanken werden später einmal, wenn alles ausgestanden ist, im Rückblick auf die Coronakrise aufkommen? Was wird im kollektiven Gedächtnis verhaftet bleiben? Wird man sich vor allem an persönlich herausfordernde Situationen erinnern – wie etwa die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Hamsterkäufe und Schlangenstehen vor Supermärkten? Oder wird man im Nachhinein gar schmunzeln darüber, dass in einem der reichsten Länder der Welt plötzlich kein Toilettenpapier mehr verfügbar war? Oder werden solche Belastungsproben der persönlichen Nervenstärke und Resilienz verblassen mit zeitlichem Abstand und im Angesicht gesellschaftsweiter Umwälzungen, die die Pandemie brachte? Wird es die Einsamkeit sein oder die Welle der Solidarität, die man in Erinnerung behält? Oder werden manche von uns das eine oder andere Mal vielleicht sogar sehnsuchtsvoll zurückblicken auf den gefühlten Stillstand und die Ruhe auf den Straßen der Stadt, das alles übertönende Vogelgezwitscher und die Stille der Nacht? Und wie werden wir die massiven Grundrechtseinschränkungen dieser Tage beurteilen? Steht zu befürchten, dass dereinst Corona als der Moment des Dammbruchs festgemacht werden muss? Als der Moment, an dem sich mit Blick auf die Unantastbarkeit unseres grundrechtlichen Schutzes Normen verschoben?

Tatsächlich lässt sich weltweit beobachten, wie diverse Länder im Krisenmodus die Bevölkerung mit einer Überwachungs- und Kontrollinfrastruktur überziehen, wie man dies bislang nicht für möglich hielt. Natürlich greift die digitale Gesellschaft auch in der Pandemiebekämpfung zu technologischen Mitteln, um Daten zu sammeln, die Aufschluss über die Verbreitung des Virus geben und dabei helfen, es einzudämmen. Dabei zeigt sich der Technikeinsatz von Land zu Land sehr unterschiedlich, je nachdem, wie mit der Pandemie umgegangen wird – und wie dabei Sicherheit und Freiheit ausbalanciert werden. Denn die Unterschiede hinsichtlich der Eingriffe in Grundrechte und Privatsphäre könnten nicht größer sein, wird mancherorts bloß auf anonymisierte aggregierte Daten zurückgegriffen, derweil andernorts konkrete Individuen und ihre Kontakte nachverfolgt werden.

So verzeichnet Corona Map in Südkorea, das hierzulande oftmals als Vorzugsschüler in der Pandemiebewältigung hochgehalten wird, die Aufenthaltsorte infizierter Personen auf einer öffentlich zugänglichen Karte, um die Allgemeinheit darüber zu informieren, welche Gegenden besser zu meiden sind. Dabei werden nicht bloß Mobilfunkdaten herangezogen, sondern ebenso Kreditkartendaten und sogar persönliche Interviews mit Infizierten werden genutzt, um möglichst exakte Bewegungsprofile zu erstellen. Auch die Regierung greift auf diese Corona-Karte zu, um Ansteckungsrisiken zu prüfen und um bei Kontakten mit Infizierten Warnungen an die Betroffenen zu senden. Wer Quarantäneauflagen nicht einhält oder auch bloß einen Kontrollanruf nicht entgegennimmt, wird in Südkorea mit Hilfe eines elektronischen Armbandes quasi an die heimische Quarantäne „gefesselt“. In Taiwan, das als Vorreiter im Tracking von Mobiltelefonen zur Einhegung von Covid-19 gilt, wird mit Hilfe eines „electronic fence“ sichergestellt, dass Personen ihre verordnete Quarantäne einhalten. Dazu werden in dem demokratischen Inselstaat GPS-Daten des Mobiltelefons kontrolliert und im Falle, dass die Betreffenden ihre Wohnung verlassen oder das Telefon abschalten erhält die Polizei eine Nachricht. In Singapur werden mit Hilfe der App TraceTogether über Bluetooth-Signale Personen aufgespürt, die in engem Kontakt standen und somit einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt waren. In Hong Kong wird über die App StayHomeSafe und damit gekoppelten Tracking-Armbändern mittels Geofencing-Technologie die Einhaltung von Quarantäne kontrolliert, indem Daten automatisch an die Polizei übermittelt werden. Polen geht einen ganz eigenen Weg, um die ordnungsmäßige Einhaltung von Quarantänemaßnahmen zu prüfen: Dort müssen Menschen regelmäßig mit Lokationsdaten versehene Selfies an die Behörden senden, andernfalls stattet die Polizei den Betreffenden einen Besuch ab. Österreich nutzt anonymisierte aggregierte Lokationsdaten, um sich ein Bild über Bewegungsströme der Bevölkerung zu verschaffen.

Technologische Aufrüstung auch in Deutschland

Auch in Deutschland bilden Forscher mit Hilfe anonymisierter Mobilfunkdaten Bewegungsströme ab, um die Ausbreitung des Virus und die Wirksamkeit der beschlossenen Maßnahmen zu deren Bekämpfung nachzuvollziehen. Darüber hinaus wird die Hoffnung im Rahmen einer technologischen Reaktion auf die Pandemie vor allem auf drei Apps gesetzt. Anfang April stellte das Robert Koch-Institut eine App zur Verfügung, die den Forschern weiteren Einblick in die Verbreitung von SARS-CoV-2 geben soll. Nutzer von „Corona-Datenspende“ sind aufgerufen, Vitaldaten an das Institut zu übersenden, wie sie ohnehin von Trägern von Fitnessarmbändern oder Smartwatches aufgezeichnet werden. Da sich bei akuten Atemwegserkrankungen Vitalzeichen wie Ruhepuls, Schlaf und Aktivitätsniveau verändern, könnten auch, so die Idee, typische Symptome von Covid-19 wie etwa Fieber durch die App erkannt werden. Daneben wurde in den vergangenen Wochen eine Tracing-App heiß diskutiert, mit deren Hilfe Kontaktpersonen von Infizierten rasch per Bluetooth-Technologie identifiziert werden sollen, um Infektionsketten zu unterbrechen. Ohne Zweifel ist diese Aufgabe prädestiniert, sie mit digitalen Mitteln zu lösen. Ungleich schneller als durch manuelle Kontaktnachverfolgung können Personen kontaktiert und die betreffenden Konsequenzen daran geknüpft werden. Darüber hinaus sollen die Gesundheitsämter mit einer weiteren App bei der Prüfung der Einhaltung von Auflagen zur häuslichen Quarantäne unterstützt werden. Über die genaue Ausgestaltung und technische Umsetzung der als „Quarantäne-Tagebuch“ von Jens Spahn in einer Pressekonferenz am 20. April angekündigte Anwendung ist bislang allerdings noch nichts bekannt.

Man reibt sich verwundert die Augen, was so alles plötzlich möglich erscheint in Deutschland, dem Land des Datenschutzes. Die schwersten Datensammelgeschütze werden aufgefahren im Zeichen der Krise. Dass mit den geplanten Apps ein Szenario der Massenüberwachung im Raum steht, wie es ohne den Anlassfall der Seuchenbekämpfung kaum denkbar wäre, ist umso bemerkenswerter als man leise Zweifel anmelden darf, ob die Erfolge, die ostasiatische Staaten mit ihrem technokratischen Ansatz feiern durften, in unserer Welt so einfach replizierbar sind. Schon allein weil die Maßnahmen in den betreffenden Ländern in einem durch kollektivistischen Geist geprägten Umfeld, das die zivilgesellschaftliche Akzeptanz der Infektionsschutzmaßnahmen befördert, zum Tragen kommen, werden sie sich in ihrer Wirkung von einem Einsatz hierzulande unterscheiden. Dazu kommt noch, dass insbesondere Südkorea, das als Aushängeschild der technologischen Virusbekämpfung gilt, nicht unbedingt zum Vergleich taugt. Denn das Land gilt als Vorreiter für alles, was mit digitaler Technologie zu tun hat. In Südkorea ist das Leben der Menschen um vieles digitaler als in Deutschland. Die Bewohner sind daran gewöhnt, ihren Alltagsdingen zu einem großen Teil mit Hilfe von Apps nachzugehen. Dies dürfte zum einen dazu beitragen, dass die Menschen in Südkorea um einiges bereitwilliger eine App zur Kontaktnachverfolgung nutzen als dies in Deutschland der Fall sein könnte. Zum anderen hat die dortige durchdigitalisierte Lebenswelt auch zur Folge, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Daten über die Bevölkerung bereitliegt, die in Kombination mit jenen der Corona-App entstammenden Daten die Effektivität der Kontaktnachverfolgung steigert. Denn dadurch ergibt sich ein viel reichhaltigeres Bild als dies eine isolierte Betrachtung der bloß durch Contact-Tracing-App generierten Daten ermöglicht. Dass der Einsatz von digitalem Tracking ursächlich dafür ist, dass Südkorea relativ glimpflich durch die Coronapandemie gekommen ist, spiegelt also nur die halbe Wahrheit. Zum einen stellt die Tracing-App bloß ein Element eines umfassenderen Plans dar, zum anderen muss man feststellen, dass in dem Land schlicht andere kulturelle Rahmenbedingungen für den Einsatz von Tracing-Apps herrschen.

Aber ebenso wirft die App für sich betrachtet Zweifel an der Wirksamkeit zur Pandemieeindämmung und vor allem Verhältnismäßigkeit der Maßnahme auf. Natürlich ist es verführerisch, eine derart aufwändige Tätigkeit wie die Kontaktnachverfolgung automatisieren zu wollen. Zwar wird von den Befürwortern einer Tracing-App beharrlich der vermeintlich unbestreitbare Nutzen einer solchen technologischen Herangehensweise dargestellt. Doch können die Apps, wie sie momentan angedacht sind, nämlich Personen ausfindig zu machen, die sich in der Nähe von infizierten Personen befanden, tatsächlich zuverlässig Ansteckungsrisiken identifizieren? Zu diesem Zweck müssten Smartphones ausreichend brauchbare Indikatoren für eine Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus sein – aber sind sie das denn?

Es ist eine Vielzahl plausibler Fälle vorstellbar, in denen falsch positive und falsch negative Ergebnisse zustande kommen. So kann es auch dann zu Kontaktwarnungen kommen, obwohl die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung gering war. Etwa dann, wenn die betreffenden Personen durch eine Wand getrennt waren, die durchlässig genug für Bluetooth-Signale ist. Außerdem registriert das System natürlich nicht, ob irgendwelche Schutzmaßnahmen wie Masken während der Interaktion im Einsatz waren. Und selbst wenn die Möglichkeit einer Ansteckung gegeben ist, führt nicht jeder solche Kontakt zu einer Ansteckung. Zusätzlich ist zu bedenken, dass die Ansteckungsgefahr bei flüchtigen Begegnungen wie etwa im Supermarkt recht gering ist. Daher ergibt sich das Problem, dass im Falle, dass die App diese Fälle mit geringer Ansteckungsgefahr meldet, ein sehr weiter Personenkreis Warnungen erhält. Berücksichtigt sie solche Fälle hingegen nicht, dann besteht die Möglichkeit, dass Fälle übersehen werden. Diese Unschärfe wirft keine unerheblichen Probleme auf, wenn man davon ausgeht, dass zu viele Warnungen zu einer nachfolgenden Selbstquarantäne führen, selbst wenn keine Infektion stattgefunden hat. Wie viele Blindalarme wird eine Person akzeptieren? Und ist eine solche Vorgehensweise mit unseren Vorstellungen von Freiheit vereinbar? Was bedeutet es für das Gemeinwesen, wenn sich eine Menge Personen unnötigerweise isolieren müssen? Wenn Personen immer wieder am Arbeitsplatz ausfallen und ganze Schulklassen wiederholt zu Hause eingesperrt werden müssen? Dazu kommt noch, dass auf der anderen Seite fraglich ist, ob eine ausreichend hohe Anzahl von Fällen überhaupt registriert wird. Zum einen weil die Nutzung der App freiwillig ist und zum anderen muss berücksichtigt werden, dass nicht jeder über ein Smartphone verfügt oder ständig mit sich trägt. Es ist zu erwarten, dass gerade die ältere Bevölkerungsgruppe, die allerdings die größte Risikogruppe ausmacht, am wenigsten auf dem Radar der App erscheinen wird. Durch den Raster fallen auch solche Fälle, in denen Infizierte gar keine Symptome aufweisen oder aus anderen Gründen nicht getestet werden und somit ihren positiven Infektionsstatus nicht melden. Dieses Problem zeigt klar auf, dass der Einsatz einer Contact-Tracing-App vor allem dann Sinn hat, wenn die Zahl der Infektionen relativ gering ist sowie schnell und ausgiebig getestet wird.

Realistische Erwartungen

Angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint der unhinterfragte Nutzen der digitalen Nachverfolgung, wie er von politischen Akteuren beharrlich vorgebracht wird umso bedenklicher als der Einsatz einer Contact-Tracing-App zur Vorbedingung einer Lockerung der nun schon Wochen anhaltenden Grundrechtseinschränkungen gemacht wird. Dabei wäre es wichtig, dass eine Maßnahme solcher Reichweite, die mit neuerlichen Einschnitten in den Grundrechtsschutz verknüpft ist, auf einer klaren Informationslage hinsichtlich Unzulänglichkeiten und Konsequenzen beurteilt wird. Dass in die Entscheidung darüber, ob eine solche App genutzt werden soll, nicht ein utopisches Idealbild eingeht, sondern die technische Lösung, wie sie der Realität entspricht, mit all ihren Tücken und Lücken. Und dass ebenso klar ist, dass das digitale Mittel der Pandemiebekämpfung immer nur so gut sein kann, wie die Rahmenbedingungen, innerhalb derer es eingesetzt wird. Isoliert wird die Contact-Tracing-App kaum Wunder vollbringen.

Wenn nun eine technische Intervention als Antwort auf das Coronavirus ins Spiel gebracht wird, das ganze Land eine App herbeiredet und hochfliegende Erwartungen an sie richtet, dann kommt der Verdacht auf, es könne sich um einen Fall von technologischem Solutionismus handeln, wie Evgeny Morozov jenes unbändige Vertrauen in die Lösungskräfte von Technologie für komplexe soziale Probleme nannte. Sind nicht die Erwartungen an den Nutzen einer solchen App maßlos überzogen, wenn man sich nicht nur die technischen Beschränkungen vor Augen hält, sondern ebenso in Betracht zieht, dass nicht alles, was technisch machbar ist, aus normativer Perspektive das Richtige sein muss. Auch in dieser Hinsicht nämlich kann Südkorea als Vorzeigekandidat gelten: Dort kam es bereits zu erheblichen Privatsphäreverletzungen, wenn die von Behörden veröffentlichten persönlichen Informationen Infizierter nicht nur soziale Stigmatisierung beförderten, sondern auch Missbrauch der Daten Tür und Tor öffneten und etwa zu Erpressungsversuchen führten. Dazu kommt noch, dass sämtliche Erwägungen bislang auf der Freiwilligkeit der App-Nutzung beruhen. Doch was, wenn aus Freiwilligkeit Zwang wird? Und wenn damit nicht eine offizielle Verpflichtung der App-Nutzung gemeint sein muss, so doch eine faktische Verpflichtung, weil anders nicht mehr am sozialen Leben teilzuhaben ist? Es ist nicht allzu weit hergeholt, sich ein Szenario vorzustellen, in dem Arbeitgeber, Ladenbesitzer oder Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel das Vorzeigen des App-Status verlangen, um durch Zugangskontrollen das Infektionsrisiko zu minimieren. Exakt dies wird in China bereits praktiziert. Die dortige Corona-App, mit der auch Bewegungen im Land verfolgt werden, zeigt einen personalisierten QR-Code, der je nach Färbung basierend auf dem Gesundheitsstatus anzeigt, welche Optionen offenstehen: Grün gibt an, dass jemand nicht in Kontakt mit Infizierten stand und macht damit die App zum Schlüssel, um Zugang zu Hotels, Restaurants oder Einkaufszentren zu erhalten. Vom App-Status ist mithin abhängig, ob jemand in Coronazeiten am sozialen Leben teilhaben kann oder aber als Aussätziger davon ausgeschlossen bleibt.

Schlechte Zeiten für den Datenschutz

Selbst wenn man nicht unterstellen muss, dass der Einführung einer Contact-Tracing-App die vorsätzliche Ausschaltung von Datenschutz und Aushöhlung von Privatsphäre zugrundeliegt, sondern die App-gestützte Überwachung aus gutmeinenden Gründen der Seuchenbekämpfung in Angriff genommen wird, so muss man doch feststellen, dass dieser weitgehende Schritt in einer Atmosphäre der lahmenden demokratischen Debatte geschieht. Datenschutz wird gegen die Notwendigkeit der Infektionseindämmung ausgespielt. Angesichts der Dringlichkeit der Lage ist jedes Mittel recht, so scheint es. Die politische Rhetorik knüpft die Lockerung der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen an den Einsatz einer App zum digitalen Tracking. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, heißt es. Nicht nur, dass eine Wirksamkeit der technologischen Antwort auf die Seuche vorausgesetzt wird, insinuiert wird außerdem ein Zielkonflikt zwischen Pandemieeindämmung einerseits und Bewahrung des gewohnten Grundrechtsschutzes andererseits. Ob es überhaupt einen solchen Zielkonflikt gibt, wird man erst in der Rückschau auf die Krise, nach sorgfältiger Bewertung der Effektivität der einzelnen Maßnahmen wissen. Besorgniserregend ist aber jedenfalls, wie von vornherein eine Konfrontation und Ausschließlichkeit der beiden Güter Pandemieeindämmung und Grundrechtsschutz konstruiert wird, um unter weitgehender Ausschaltung von Gegenstimmen einen Sachzwang zu unterstellen, der Alternativlosigkeit vorgaukelt. Im Angesicht von „Krieg“ (Macron) und „Katastrophenfall“ (Söder) habe Gesundheit absoluten Vorrang. Eine Abwägung von Rechtsgütern? Fehlanzeige. „Jetzt stellen sich auch noch Datenschützer entsprechenden Apps, die die Nachverfolgung viel schneller machen könnten, in den Weg.“ Das meint die Virologin Melanie Brinkmann in einem Interview und bringt damit auf den Punkt, wie Datenschützer und Grundrechtsverteidiger zurzeit als Störenfriede und verantwortungslose Bedenkenträger abgetan werden. Kritik zu ertragen, gehört allerdings zur Demokratie dazu, ja, Demokratie lebt von der Debatte. Ohne kritische Stimmen, ohne das Dagegenhalten Andersdenkender kann wohl kaum von Demokratie die Rede sein. Zwar mag der Wettstreit mit der Kraft der Argumente gerade in Krisenzeiten ein utopisches Ziel sein, wenn aber abweichenden Meinungen nicht einmal ansatzweise Gehör geschenkt wird oder einer Debatte gleich gar kein Raum gegeben wird, was ist die Demokratie dann noch wert? Weil es um „Leben und Tod“ gehe und Gesundheit an erster Stelle stehen müsse, könne man es für den Moment getrost verkraften, dass die demokratische Debatte ausgesetzt sei, so hat es den Anschein. Ob die Eindämmung der Pandemie über den Datenschutz gehe, wird Melanie Brinkmann gefragt. Vernichtender für die Demokratie könnte die Antwort nicht ausfallen: „Ich finde es unglaublich, dass diese Debatte überhaupt geführt wird.“ Auch in Krisenzeiten zeugt es nicht gerade von demokratischem Geist, von vornherein jegliche Debatte zu unterbinden. So entsteht in diesen Tagen ein Raum, in dem Ruhe und Füße-Stillhalten zur ersten Bürgerpflicht werden und quasi durch die Hintertür Eingriffe in Datenschutz und Privatsphäre erfolgen wie sie bislang kaum für möglich gehalten wurden. Nicht abgestritten werden soll die Notwendigkeit von – auch grundrechtsbeschränkenden – Maßnahmen im Angesicht der Pandemie. Doch darf darüber nicht vergessen werden, dass Grundrechte nichts sind, was von staatlicher Seite nach Belieben an- und ausgeknipst werden kann. Grundrechte sind vielmehr als Schutzrechte gegenüber dem Staat konzipiert. Folglich gilt es aufzuräumen mit sich klammheimlich eingeschlichenen Beweislastumkehr. Für den gegenwärtigen Konfrontationskurs der Datensammel-App im Austausch gegen Maßnahmenlockerungen bedeutet das: Nicht die Rücknahme der vollzogenen Einschnitte in den Grundrechtsschutz bedarf einer Rechtfertigung, sondern umgekehrt muss immer wieder aufs Neue danach gefragt und begründet werden, ob die Grundrechtseinschränkungen länger angebracht sind. Eine Grundrechtseinschränkung hinzunehmen als Preis für die Rücknahme einer anderen Grundrechtseinschränkung, ist aus demokratischer Sicht daher beileibe nicht die geeignete Darstellung der derzeitigen Entscheidungssituation.

Mit Blick auf die technologischen Hilfsmittel der Pandemiebekämpfung ist zudem noch zu sagen, dass, so blitzschnell die Ausdehnung der Massenüberwachung momentan um sich greift, wenig dafür spricht, dass sie im selben Tempo wieder verschwinden wird, ist die Pandemie einmal eingehegt. Ganz im Gegenteil, darf man getrost davon ausgehen, dass die Kontroll- und Überwachungstechnologien nicht wieder vollständig zurückgenommen werden. Ebenso wenig wie die gesammelten Daten einfach wieder verschwinden werden. Dazu noch, so steht zu befürchten, werden sich unsere Normen verschieben: Was als akzeptabel gilt und was nicht, wo die Grenzen der Privatsphäre und des Datenschutzes verlaufen, all dies wird eine Änderung erfahren haben, ohne dass es in demokratischer Weise ausgehandelt wurde.

Es sind keine abstrakt-theoretischen Gedanken, die Demokratie mitsamt ihren Grundrechten durch die momentanen Vorstöße als zumindest angekratzt zu betrachten. Wir sind derart gewöhnt an unseren komfortablen Grundrechtsschutz, dass bislang willfährig auch die härtesten Maßnahmen zum Zwecke der Infektionseindämmung mitgemacht wurde. Stillhalten, um das „normale“ Leben wieder zurückzubekommen, scheint die Devise zu sein. Corona wird eines Tages ausgestanden sein, die Läden werden wieder öffnen, Kinder wieder in die Schulen gehen und irgendwann wird es auch wieder möglich sein, Konzerte und Kinos zu besuchen. Doch die Demokratie werden wir dann nehmen müssen, wie sie ist – nämlich, was wir in diesen Tagen der Ausnahmesituation daraus gemacht haben. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zeigen in ihrem Buch „How Democracies Die“ auf, dass Demokratien nicht nur durch Staatsstreiche , von Militärs durch Waffengewalt ein Ende finden. Ebenso können weniger dramatische Prozesse für den Zusammenbruch von Demokratien verantwortlich sein, dann nämlich, wenn quasi von innen heraus die demokratischen Prozesse ausgehöhlt werden. Dieser zweite Weg, der mit Schritten anfängt, die von Legislative und Judikative abgesegnet sind, so stellen die Autoren fest, ist der weitaus häufigere. Deshalb mag es alarmistisch klingen, in der gegenwärtigen Situation auf eine mögliche Beschädigung unseres demokratischen Gemeinwesens durch die Aushöhlung von Grundrechten und demokratischen Prozessen hinzuweisen. Doch zeigt sich immer erst im Nachhinein, welcher der vielen kleinen, für sich genommen unmerklichen Schritte jener war, der die Erosion der Demokratie in Gang gebracht hat.

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