Das deutsche Dilemma freiheitlicher Politik
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Die FDP kratzt in einigen Umfragen wieder an der Fünf-Prozent-Hürde. Doch diese Misere ist nur Teil einer tiefen strukturellen Krise des gesamten liberalen Lagers. Ihre Überwindung könnte schmerzhaft werden.

Viel wurde bereits über die kommunikativen Fehler der FDP geschrieben und dabei oft ihre programmatischer Beliebigkeit kritisiert. Dass ihre Renaissance von 2017 nur von kurzer Dauer war, ist aber auch Widerhall eines tieferliegenden Problems: einer andauernden Instabilität des liberalen Lagers. Die Frage nach individueller Schuld am Absturz erscheint vor diesem Hintergrund müßig. Stattdessen sollten wir den Blick auf die kulturelle Schwäche und gesellschaftliche Isolation des deutschen Liberalismus insgesamt werfen.
Beides sind Probleme, die tief im rein politischen Verständnis des Liberalismus verwurzelt sind. Dieser politische Liberalismus beschränkt sich zu stark auf Aussagen über das wirtschaftliche Zusammenleben. Er ist ein unternehmens- und parlamentszentrierter Liberalismus. Was ihm fehlt, ist eine Individualmoral, also eine Richtschnur für das private Leben des Einzelnen.
Darum ist es in Deutschland nicht möglich „liberal“, aber sehr wohl „grün“ zu leben. Denn Grün-sein bedeutet soziales und ökologisches Primat im Politischen. Es bedeutet aber auch Harmoniesuche und Nachhaltigkeitsstreben im Privaten. Daher gibt es inzwischen grüne Energie, grüne Lebensmittel, grüne Reiseanbieter, aber keine liberale Energie, liberale Lebensmittel oder liberale Reiseanbieter.
Smart aber visionär entleert
Dieser Mangel auf der Ebene individueller Lebensführung äußert sich auch in der Königsdisziplin des politischen Werbens: der Vision. Denn gerade die Vision ist auf ein Ideal menschlicher Lebensführung gerichtet. Während Linke und Grüne unter Slogans wie „Eine andere Welt ist möglich“ antreten und die AfD immerhin „die Wende 2.0“ verspricht, möchte die FDP gerne alles „smarter“ machen. Das ist eine charmante Beschreibung für die technisch aktualisierte Bewahrung des Status quo.
Doch gerade für junge Menschen ist Identitäts- und Visionssuche wichtig. Wie viele Filme und Serien porträtieren den Kampf des Menschen gegen eine nicht-digitalisierte Verwaltung (Liberale Forderung)? Wie vielen hingegen zeigen das Aufbegehren des Menschen gegen die vermeintliche Ausbeutung im Kapitalismus (Linke Forderung)? Und für welche der beiden Anliegen gehen die Menschen zu Tausenden auf die Straße?
Der politische Teufelskreis des Liberalismus
Dass sich in Deutschland nur ein politischer Liberalismus etablieren konnte und eben kein weltanschaulicher, liegt an zwei Teufelskreisen: einem auf der parteipolitischen und einem auf der kulturellen Ebene.
Der parteipolitische Teufelskreis lässt sich an der FDP als politischen Arm des Liberalismus festmachen. Von allen großen Parteien verfügt die FDP über den geringsten Anteil an Stammwählern, also Wählern, die in besonderer Treue zur Partei stehen. Das führt zu hohen Schwankungen in den Wahlergebnissen. Vergleicht man die FDP-Wahlergebnisse zwischen 2005 und 2017, so reichen diese von 4,8 bis 14,6 Prozent. Zum Vergleich: Die Spannbreite bei der weltanschaulich konsequenten Linkspartei reicht im gleichen Zeitraum von 8,1 bis 10,7 Prozent.
Dieser Mangel an Stammwählerschaft zwingt die FDP zu ideologischer Flexibilität. Da ihr eigenes Kern-Milieu aus Besserverdienenden und Freiberuflern nicht ausreicht, die Partei über die Fünf-Prozent-Hürde zu tragen, ist sie auf Wechselwähler besonders angewiesen. Die dafür erforderliche Flexibilität – gemeinhin als Beliebigkeit wahrgenommen – verhindert aber zugleich den Aufbau einer größeren Stammwählerschaft. Denn gerade Stammwähler sind im besonderen Maße an die Ideale einer Partei gebunden – sie sind Wähler aus weltanschaulicher Überzeugung.
Der kulturelle Teufelskreis des Liberalismus
Auf der zweiten, der kulturellen Ebene, besteht ein ähnlicher Teufelskreis. Da sich die Anhänger des Liberalismus in Deutschland mehrheitlich aus wenigen, vor allem wirtschaftsorientierten, Milieus rekrutieren, kommt es zu einer Vernachlässigung des Kulturellen. Denn die zukünftigen Künstler, Journalisten und Aktivisten stammen traditionell aus den sozialwissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten.
Gerade diese Gruppen sind es aber, die fähig wären, den Liberalismus weltanschaulich zu vervollständigen, ihm eigene Subkulturen, eigene Vereine und NGOs zu geben. Doch weil dem Liberalismus all dies fehlt, gibt es für die kulturelle Intelligenz auch wenig Grund, sich ihm zuzuwenden. Damit ist der Liberalismus in Deutschland dauerhaft gefangen in wenigen Milieus.
Die Suche nach der anderen Hälfte...
Ist der Liberalismus in Deutschland also verdammt ein Nischendasein zu führen? Nicht zwingend. Hierfür gilt es aber die individualmoralische Leere zu füllen. Inspiration könnte etwa aus dem amerikanischen Raum kommen. So haben die Objektivisten und Anhänger Ayn Rands eine zweifellos streitbare aber gewiss umfassende Philosophie des Liberalismus vorgelegt.
Sie fordern nicht bloß Eigenverantwortung und Leistungswille, sie propagieren das Ideal eines Menschen, der gänzlich für sich lebt. Selbstaufopferung ist damit unmoralisch. Dem Individuum und seiner Schaffenskraft werden Natur, Tradition und soziales Miteinander rücksichtslos untergeordnet. Selbst Liebe wird als rationaler Tausch verstanden.
Dass sich Rands Bücher millionenfach verkaufen, Aktivisten Siedlungen nach ihrem kapitalistischen Utopia benennen und ihr Hauptwerk “Atlas Shrugged” zu den einflussreichsten Büchern in der jüngeren amerikanischen Geschichte gehört, beweist die Schlagkraft eines solchen weltanschaulichen Liberalismus. Er ist aber auch radikaler Gegenentwurf zum smarten Verwalten und zur Kompromissfreude des politischen Liberalismus.
…und ihre praktische Umsetzung
Doch wie könnte aus dem politischen Liberalismus ein vergleichbar starker weltanschaulicher Liberalismus werden? Vermutlich nur durch eine grundsätzliche Revision des deutschen liberalen Denkens: Erstens müsste sich der Liberalismus vom Leitbild des homo oeconomicus lösen. Idealisten sind keine homo oeconomici – sie reizt nicht das Geld und nicht die Effizienz, sondern die ideelle Integrität. Und gerade Idealisten bestimmen kulturelle Auseinandersetzungen. Zudem kann der homo oeconomicus auf viele weltanschauliche Fragen kaum Antworten geben. Ob ich ein Frauenquote will oder nicht, ist bestenfalls sekundär eine Frage der Nutzenmaximierung.
Die Ablösung des homo oeconomicus ist aber auch nur möglich, wenn der Liberalismus bereit ist, seine Kompromissfreude in Wertefragen zu überwinden. Liberalismus sollte weder primär die Stimme irgendeiner Mitte, noch der Vernunft sein. Er sollte auch nicht gesellschaftliche Kräfte moderieren. Weltanschaulich kann er nur werden, wenn er beispielsweise Eigenverantwortung zum eigenen Leitwert in allen Fragen erhebt. Selbst dann wenn dieser Leitwert von vielen als Ungerechtigkeit oder Zumutung empfunden wird.
Klar ist, ein solcher Kurswechsel könnte zunächst mehr Wechselwähler kosten, als er Stammwähler einbringt. Daher muss sich der Liberalismus von der Parlamentsfixierung lösen. Politik wird auch auf der Straße gemacht und wird dort zu unmittelbarem persönlichen Erleben. Das schafft individuelles Commitment und kann kleinen Initiativen wie den Students for Liberty, Apollo-News, Liberty Rising usw. helfen, die engen Milieu-Grenzen des politischen Liberalismus zu sprengen.
Zusammengenommen bedeuten diese drei Vorschläge einen schmerzhaften und riskanten Weg. Wir sollten aber nicht vergessen, dass ein rein politischer Liberalismus letztlich zum Spielball stärkerer Weltanschauungen wird. Er läuft Gefahr, bloß Anhang als Nationalliberalismus, als Grüner Liberalismus, als Linksliberalismus oder als Liberalkonservatismus zu werden. Wir sollten uns daher bewusst fragen, ob der politische oder der weltanschauliche Weg letztlich das größere Risiko für freiheitliche Politik darstellt.