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Gesellschaft & Kultur > Merkel und die Eröffnungsdiskussions-Orgie

Warum Merkel mit ihrer Kritik an "Öffnungsdiskussions-Orgien" irrt

Die Kanzlerin ist verärgert, weil in der Corona-Krise einige Ministerpräsidenten mehr Normalisierung wagen als sie selbst. Aber die Bundesregierung hat bislang zu häufig geirrt, als dass man ihr die alleinige Kompetenz zubilligen kann bei der Suche nach dem besten Weg zum Schutz der Gesundheit und zur Revitalisierung der Wirtschaft.

Wir möchten gar nicht fragen, was sich Angela Merkel wohl unter einer landläufigen Orgie vorstellt. Wohl aber, was „Öffnungsdiskussions-Orgien“ kennzeichnet.

Die Kanzlerin reagierte am Montag sauer auf die von diversen Ministerpräsidenten angeführte Debatte über Erleichterungen angesichts des Corona-Shutdowns. Darum hat sie am Montag im CDU-Präsidium diesen Begriff mit erkennbar hoher Halbwertzeit geprägt. Ihre Botschaft: Reißt euch am Riemen! Keine Erwartungen wecken! Kurs halten und weiter so! Das klingt, in Zeiten einer veritablen Krise, auf den ersten Blick überzeugend. Erreichtes darf nicht gefährdet und keine neue Infektionswelle provoziert werden!

Als die Kanzlerin selbst Öffnungen versprach

Beim zweiten Nachdenken allerdings muss man der Kanzlerin widersprechen: Ihr Begriff trifft die Form des öffentlichen Diskurses und, mehr noch, des Ringens um den bestmöglichen Kurs in Corona-Deutschland ganz und gar nicht.

Denn am Anfang der angeblichen „Öffnungsdiskussions-Orgien“ stand die Kanzlerin ja selbst. "Noch geben uns die täglichen Zahlen der Neuinfektionen leider keinen Grund, nachzulassen oder die Regeln zu lockern", sagte sie zwar in ihrem Podcast Ende März. Aber sie schränkte zugleich ein, ihr Ziel sei es, dass die Zahl der Neuinfektionen sich nur noch alle zehn Tage verdopple, um das Gesundheitssystem nicht zu überfordern. Die logische Folgerung wäre, dass nach Erreichung dieses Etappenziels Lockerungen auch im Sinne der Kanzlerin angezeigt werden. Nun liegt die Verdoppelungszeit (Stand: 18. April) bei 35,5 Tagen. Und doch reagiert Merkel dermaßen genervt auf Vorstöße etwa des nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) bei Erleichterungen partiell vorzupreschen. Laschet, einer der Kandidaten für den Parteivorsitz, hat seit Montag auch Möbelhäusern, Babymärkten, Fahrschulen und partiell Shoppingcentern eine Wiedereröffnung erlaubt.

Aber Orgien sind dort trotzdem kaum möglich, heißt es in der entsprechenden Verfügung der schwarz-gelben Düsseldorfer Landesregierung doch auch: „Die Anzahl von gleichzeitig im Geschäftslokal anwesenden Kunden darf eine Person pro zehn Quadratmeter der Verkaufsfläche (…) nicht übersteigen.“

Söder und die Verschärfungsorgie

Andere Ministerpräsidenten preschen gar erneut voraus, allen voran der bayerische Landesvater Markus Söder (CSU), der am Montag eine ab nächste Woche geltende Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften ankündigte. Einzelne Kommunen, darunter Jena, hatten eine solche Maskenpflicht bereits vergangene Woche verfügt.

Gibt es also gleichzeitig eine „Verschärfungsdiskussions-Orgie“ in Deutschland? Jeder weiß, dass die Bundesregierung ebenfalls längst eine Maskenpflicht beschlossen hätte, wären die Vorräte nur ausreichend groß. Dem Rezept anderer Länder oder etwa von New York City zu folgen, auch improvisierte Gesichtsmasken wie Schals oder Halstücher zuzulassen, mag die Kanzlerin nicht folgen. Will man aber Länderchefs und Kommunalpolitiker rügen, die an dieser Stelle entschlussfreudiger und restriktiver sind als das Kanzleramt?

Als das Kanzleramt noch auf Offenhaltung setzte

Wir erleben eine Ausnahmesituation, in der kaum ein Politiker zu behaupten wagt, er habe einen „Plan“ oder eine Strategie. Keiner weiß, wie die Entwicklung weitergehen mag, es gibt keine Erfahrungen, auf die man zurückgreifen könne. Noch vor etwas mehr als einem Monat positionierte Merkel sich beispielsweise dezidiert gegen Grenzschließungen. „Wir sind in Deutschland der Meinung, dass Grenzschließungen keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen sind“, sagte die Kanzlerin am 11. März. Da zu diesem Zeitpunkt derartige Maßnahmen in den USA oder auch beim Nachbarn Österreich bereits verfügt worden waren, hätten Donald Trump oder Sebastian Kurz der Berliner Politik zu jenem Zeitpunkt „Offenhaltungs-Orgien“ vorwerfen können. (Wenige Tage später folgte Deutschland dieses Beispielen.)

Die Politik in Bund und Ländern (und sogar Kommunen) steuert auf Sicht bei dem Versuch, einerseits die Gesundheit von Menschen und andererseits eine Reststabilität der Volkswirtschaft zu retten. Selbst Virologen und Epidemiologen sind uneins, wo der richtige Mittelweg zwischen beiden Zielen verläuft. In einer solchen Situation macht es sich die Kanzlerin zu einfach, Ministerpräsidenten orgiastisches Verhalten vorzuwerfen, die beim Ringen um die beste Lösung zu anderen Ergebnissen kommen als die Bundesregierung. Im Gegenteil, es ist gut, dass wir in einem förderalen System leben, in dem vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gegebenheiten in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Maßnahmen erprobt werden können – jeweils mit der innewohnenden Tragik, dass diese Proben zum Desaster werden können. Aber zu einem veritablen Desaster kann auch die bislang keineswegs immer stringente Politik des Kanzleramts führen.

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