Rückzug über 400 Kilometer Frontlinie
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Die russische Armee flieht regelrecht aus der Nord-Ukraine. Im Osten allerdings ist offenbar ein Zangenangriff geplant, um ukrainische Einheiten einzukesseln.

Der Rückzug russischer Truppen aus der Nord-Ukraine vollzieht sich über den gesamten Frontverlauf von 400 Kilometern (von Malyn über Kiew und Tschernihiw bis Sumy). Er erfolgt nicht nur schnell, sondern chaotisch und überstürzt. Putins Streitkräfte lassen bei ihrem überhasteten Abzug militärisches Gerät in großem Umfang zurück, ja sogar dutzende von eigenen Soldaten werden in Wäldern im Stich gelassen, die es nicht mehr rechtzeitig in die Konvois zurück nach Belarus oder in die russische Heimat geschafft haben.
Dazu passt, dass sich Berichte über größere Befehlsverweigerungen russischer Soldaten häufen.
Der überstürzte Abzug überrascht westliche Militäbeobachterm denn er passt in keinen strategischen Plan des Kreml. Putins Verhandlungsposition in Friedensgesprächen wird dadurch geschwächt. Die russischen Streitkräfte versuchen nun, nach der verlorenen Schlacht um Kiew im Osten Geländegewinne zu erzielen. Doch machen sie bei ihren Frontalangriffen zur Einnahme der Gebiete Donezk und Luhansk weiterhin nur wenig Fortschritte. Die russischen Einheiten im Donbass haben zunehmend Probleme mit der Moral und der Versorgung. Außerdem halten die ukrainischen Verteidiger von Mariupol die Stadt immer noch.
Das amerikanische Institute für the Study of War kommt in ihrer Frontanalyse zu folgenden Erkenntnissen:
„Die von der Charkiw-Achse aus vorrückenden russischen Streitkräfte schaffen jedoch die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme offensiver Operationen durch die Stadt Slowjansk, um sich mit anderen russischen Streitkräften im Donbass zu verbinden und die ukrainischen Verteidiger einzukesseln. Die russischen Streitkräfte haben Izyum (südöstlich von Charkiw) am 1. April eingenommen und in den letzten drei Tagen aktive Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Offensivoperationen getroffen: Sie haben Nachschub gelagert, beschädigte Einheiten neu ausgerüstet, die beschädigte Brücke in Izyum repariert und Aufklärungsmissionen in Richtung Südosten durchgeführt. Die russischen Streitkräfte werden wahrscheinlich in den kommenden Tagen mit offensiven Operationen in Richtung Slovyansk, 50 km südöstlich von Izyum, beginnen.
Die Bemühungen der von Izyum aus vorrückenden russischen Streitkräfte um die Einnahme von Slowjansk werden sich wahrscheinlich als die nächste entscheidende Schlacht des Krieges in der Ukraine erweisen. Die russischen Streitkräfte beabsichtigen wahrscheinlich, die ukrainischen Streitkräfte in der Ostukraine abzuschneiden, und müssen dazu mindestens Slowjansk einnehmen. Wenn die russischen Streitkräfte Slowjansk einnehmen, haben sie die Möglichkeit, direkt nach Osten vorzustoßen, um sich mit den in Rubischne kämpfenden russischen Streitkräften zu verbinden - ein kürzerer Vorstoß, der viele ukrainische Streitkräfte nicht isolieren wird - oder in Richtung Horliwka und Donezk vorzustoßen, um eine größere Umzingelung der ukrainischen Streitkräfte zu versuchen. Beide Optionen könnten zumindest begrenzte russische Durchbrüche im Gebiet Luhansk ermöglichen. Sollte es den russischen Streitkräften nicht gelingen, Slowjansk einzunehmen, ist es unwahrscheinlich, dass russische Frontalangriffe im Donbass die ukrainischen Verteidigungslinien unabhängig voneinander durchbrechen können, und die russische Kampagne zur Einnahme der gesamten Gebiete Luhansk und Donezk wird wahrscheinlich scheitern.
Die ukrainischen Streitkräfte führen unterdessen Operationen durch, um die beim Rückzug zurückgebliebenen Russen gefangen zu nehmen. Das ukrainische Militär meldete, dass Elemente der aus dem Norden Kiews abgezogenen russischen WDV-Einheiten (Luftlandeeinheiten) am 4. April nach Belgorod (Russland) geflogen sind. Diese Einheiten sind unterbesetzt, es fehlt ihnen an Ausrüstung, und sie sind wahrscheinlich stark demoralisiert. Russische Soldaten aus der Kiewer Achse, die zu Kampfeinsätzen abkommandiert wurden, könnten desertieren oder den Befehl verweigern, wie es bei mehreren russischen Einheiten während des Krieges der Fall war - darunter auch bei mehreren Einheiten, die noch nicht in den Kampf eingetreten waren.“