Irrsinn im reformbedürftigen System: Kleinverdiener zahlen Pflege-Zuschuss für Millionäre und Beamte
In dieser Woche zeigt sich, was passiert, wenn Politiker im Wahlkampf krude Idee umsetzen statt tiefgreifender Reformen: Durch einen auch von Geringverdienern finanzierten neuen Pflege-Zuschuss wird der Altenheim-Aufenthalt für Reiche und Beamte günstiger. Was dahinter steckt und wie die Ampel-Regierung darauf reagiert.Von Thorsten Giersch

Die Pflege ist sicher – das würde in diesen Zeiten nicht mal der mutigste Politiker behaupten. Mit steigender Tendenz tun sich immer größere Milliarden-Löcher im System auf. Es herrscht Einigkeit, dass nichts sicher ist außer ein massiver Reformbedarf: "Wer pflegebedürftig wird, muss Armut befürchten“, warnt zum Beispiel der Paritätische Gesamtverband. In Zahlen heißt das: Heimbewohner zahlen im Schnitt einen Eigenanteil von 2411 Euro pro Monat, das sind sage und schreibe 278 Euro mehr als Anfang 2022. Ein langjähriger Aufenthalt im Heim kann nicht nur die eigenen Ersparnisse auffressen, sondern bringt auch Angehörige, die dann zahlen müssen, in schwierige Situationen. Die Deutschen werden älter, die Leistungen teurer und die Löhne der in der Pflege angestellten Menschen steigen auch – zurecht, wie viele sagen. Doch nun läuft diese Meldung über die Ticker angesichts von frischen Zahlen vom Statistischen Bundesamt: Nur noch 238.000 Menschen in stationären Einrichtungen waren 2022 so bedürftig, dass sie die Grundsicherung „Hilfe zur Pflege“ bekamen – knapp zehn Prozent weniger als 2021 und so wenig wie seit 2017 nicht mehr. Und dass obwohl die Kosten stiegen. Regeneriert sich das System also von allein? Naben sich Sparmaßnahmen ausgezahlt?
Zwei Drittel gehen an Nicht-Bedürftige
Nein, weit davon entfernt. Der Grund für die wundersame Besserung entstammt einer Idee, die 2021 der damaligen Schwarz-Roten Regierung kam: Die wollte im hitzigen Bundestagswahlkampf auf die Diskussion reagieren, dass die Ausgaben für Altenheimbewohner aus dem Ruder laufen. Und im Wahlkampf gehen gewisse Dinge ja manchmal ganz schnell und es entstand die Idee, deren wahre Ausmaße in diesen Tagen erstmals sichtbar werden: Unternehmen und Steuerzahler zahlen seit Anfang 2022 einen Zuschuss im Rahmen von 3,5 Milliarden Euro.
Das Problem: Die neuen Zuschüsse der Sozialversicherung gehen an alle Heimbewohner, ob arm oder reich. Zwei Drittel, 2,4 Milliarden Euro, fließen an Menschen, die darauf nicht angewiesen sind. Anders formuliert: Arbeitnehmer mit kleinem Lohn zahlen also für Millionäre – genauso wie auch Unternehmen, die gerade auf jeden Euro achten müssen. Ein zielgenauer Einsatz der Mittel sieht anders aus.
Beamte müssen den Zuschuss nicht mitfinanzieren
Was die Begünstigten in den Alten- und Pflegeheimen freut, ist sozialpolitisch ungerecht: „Die Deckelung der Eigenanteile auf Kosten der Beitragszahler ist nicht sozial“, kritisiert daher PKV-Direktor Florian Reuther gegenüber der FAZ. Ärmere Pflegebedürftige würden durch die Zuschüsse nur wenig entlastet. „Stattdessen erhalten vermögende Pflegebedürftige auf Kosten der Beitragszahler zusätzliche Leistungen“ – obwohl die meisten von ihnen ihre Pflegekosten auch selbst tragen könnten.
Kleines Bonmot: Beamte werden von diesen Kosten übrigens verschont genau wie auch Selbstständige, die ja auch nicht nur Kleinverdiener gehören: Anwälte, Steuerberater, Notare. Die Ampel-Regierung hat die neue Regelung übrigens kritisch überprüft und sogleich eine Erhöhung der Zuschüsse für 2024 beschlossen. Die Mehrkosten dürften sich auf 600 Millionen Euro belaufen. Dies war Teil der im Mai von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) beschlossenen Pflegereform beschlossen. Doch die künstliche Reduktion des Eigenanteils um wenige Prozentpunkte löse das Problem nicht, sagen Fachleute.
Der Zuschuss ist also eher eine kosmetische Gießkannenmaßnahme, die den Reformbedarf des maroden Systems nur teilweise kaschiert. Auf das kommen zudem weiteren Belastungen zu: Der Mindestlohn in der Altenpflege soll ab 2024 von 14,15 Euro auf 15,50 Euro steigen, wie die unabhängige Pflegekommission vorgeschlagen hat. Im Juli 2025 soll es eine weitere Erhöhung auf 16,10 Euro geben. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat bereits angekündigt, die Empfehlung per Gesetz umzusetzen.
Was getan werden könnte, um den Menschen nachhaltig von den steigenden Kosten für die Heimunterbringung zu entlassen, hat ein vom Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) einberufener Expertenrat in seinem Gutachten vorgestellt. Der Vorschlag des Gremiums rund um den Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem könnte radikaler kaum sein: War die Pflegeversicherung bei ihrer Einführung 1995 ausdrücklich nicht als Vollkasko-Versicherung, sondern als „Teilkasko“ mit Eigenanteil gedacht gewesen, soll sich das nun ändern. Anstatt dass jeder Einzelne hohe Eigenanteile für die Pflege leisten muss, soll ein Großteil dieser Kosten von einer Versicherung getragen werden. In anderen Worten: Eine "Vollkaskoversicherung" tritt an die Stelle der Eigenvorsorge. Und anstelle des jetzigen Umlageverfahrens träte eine sogenannte kapitalgedeckte Zusatzversicherung mit Altersrückstellungen inklusive höherer Beteiligung der Arbeitgeber. Der Sozialverband VdK plädiert für die Idee, auch Lauterbach signalisierte Zustimmung. Ob es in dieser Legislatur allerdings noch einer umfangreichen Reform kommt, gilt als unsicher.
Was das komplett andere Modell bedeutet
Konkret würde das Modell Folgendes bedeuten: Im Moment zahlen die Beschäftigten im Umlageverfahren ein und aus diesem Topf werden unmittelbar Gelder entnommen, um die Leistungen zu bezahlen. Wenn das nicht reicht, was derzeit oft passiert, springt kurzfristig der Bundeshaushalt ein und dann steigen die Beiträge. Die angedachte Vollversicherung geht fundamental anders an die Sache heran. Der PKV-Expertenrat schlägt eine kapitalgedeckte Versicherung mit Altersrückstellungen vor, die nicht freiwillig ist, sondern für jeden verpflichtend – also zum Beispiel auch für Selbstständige. Optimisten sehen in dem Vorschlag der Expertenrunde einen Befreiungsschlag, weil er „paritätisch“ ist. Das bedeutet, dass sich auch die Arbeitgeber an den Kosten beteiligen.
Doch was würde der PKV-Expertenrats, der einem Paradigmenwechsel gleichkommt, für den einzelnen bedeuten? Für Bedürftige gibt es eine "sozialpolitische Flankierung": Empfänger von Bürgergeld und Sozialhilfe sowie Rentner zahlen den halbierten Beitrag. Kinder wären kostenfrei und Ehepartner günstiger mitversichert. Bei allen anderen sind die Beiträge für die Versicherung nach Alter gestaffelt: Wer mit 20 Jahren anfängt, in die neue Vollversicherungen einzuzahlen, muss 39 Euro pro Monat berappen. Dieser Beitrag steigt Jahr für Jahr exakt im Rahmen wie die Inflationsrate, was 2022 knapp acht Prozent waren.
So viel müsste jeder und jede einzahlen
Das steigt bis zu denen, die mit 45 Jahren einsteigen. In diesem Alter läge der Beitrag bei 52 Euro. Diese Grenze haben Experten vorläufig gewählt, um die Prämien zu deckeln. Genau über diesen Punkt muss die Politik diskutieren, sagen die Fachleute. Es könnte auch auf eine andere Altersgrenze mit abweichenden Euro-Sätzen hinauslaufen. Grundsätzlich zahlen in dem Modell auch die Menschen zwischen 46 und 66 diesen Höchstbetrag, erhalten aber mit zunehmendem Alter geringere Leistungen – bekommen also weniger raus für dasselbe Geld. Das ist grundsätzlich gerecht, dürfte aber angesichts der Masse der Wählerschaft in dieser Alterskohorte politisch heikel sein. Auch in diesem Modell der Vollversicherung würde – ähnlich wie heute bei der Krankenversicherung – also nicht jeder alle Leistungen bekommen, ohne etwas dazuzuzahlen: Jüngere bekommen 90 Prozent des Eigenanteils, wer 65 Jahre bei der Einführung als ist 56 Prozent. Die Begründung der Experten: „Ohne Selbstbehalt bestünde die Gefahr, dass die Menschen sich ein besonders teures Pflegeheim aussuchen würden, wenn es für sie selbst keinerlei Kostenfolgen hätte.“
Dass ältere Menschen bei der Einführung der Vollversicherung weniger Leistungen bekämen, liegt daran, dass sonst die Beiträge sehr viel höher ausfallen müssten. „Auf diese Weise wird zum einen eine finanzielle Überforderung der Versicherten durch die neu eingeführte Versicherungspflicht vermieden“, heißt es im Gutachten. „Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass in diesen Altersgruppen in der Regel schon konkretere Vorsorgeentscheidungen getroffen wurden und eine Versicherungspflicht zur Vollversicherung damit auch zu ,Überversicherung‘ führen kann.“ Zu bedenken ist, dass die neue Vollversicherung bei weitem nicht alle Kosten für einen Heimplatz übernimmt: Kosten für Verpflegung, Unterkunft und Investitionen bleiben als Eigenanteil bestehen. Dennoch würden die Eigenanteile in den meisten Fällen erheblich sinken: bei Jüngeren auf 125 Euro, bei 50-Jährigen auf 219 Euro und bei 65-Jährigen aus 550 Euro pro Monat. Derzeit sind es im Schnitt 1200 Euro für dieselben Leistungen.
Unklar, ob der große Wurf kommt
Bemerkenswert ist, dass das Expertengremium der eher liberal orientierten Privatversicherungen lieber über ein Modell reden, dass neue Geschäfteverspricht, als über die Ausgabenseite: Leistungskürzungen, die den Menschen nicht allzu weh tun, werden von anderen Experten auch immer wieder ins Gespräch gebracht. Oder dass man einen Mix aus privater und gesetzlicher Vorsorge fördert. Die private Pflegezusatzversicherung gilt immer noch als Nische.
Der Vorschlag der Pflegevollversicherung hat gerade in der SPD viele Anhänger, aber auch Kritiker. Die Arbeitgeber dürften erwartungsgemäß Sturm laufen, denn sie werden stärker belastet in einer Phase, wo die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ohnehin gefährdet ist. Auch das Urteil von Ökonomen fällt gespalten aus. So manche sehen in dem Vorschlag die bisher beste Option im Vergleich zum Status Quo. Andere verweisen darauf, dass eine Vollkaskoversicherung in der Regel dazu führt, dass man auch Maßnahmen in Anspruch nimmt, die man womöglich nicht als notwendig erachten würde, wenn man sie zumindest teilweise mit eigenem Geld tragen müsste. Zudem profitieren Wohlhabende genauso wie Geringverdiener.