Von Menschen mit Behinderung können wir eine ganze Menge lernen
Heute wollen sich viele Menschen als Opfer sehen. Opfer des Kapitalismus, Opfer des Kolonialismus, Opfer von Diskriminierung, Opfer von Sexismus, Rassismus usw. Ich denke, diese Menschen tun sich selbst keinen Gefallen. Und auch sonst niemandem. Welche Hoffnungen Menschen mit Behinderungen dagegen ihren Mitmenschen machen können, darüber sprach "The European" mit Rainer Zitelmann.

Herr Zitelmann, Sie haben ein neues Buch geschrieben: „Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können“. https://zitelmann-ich-will.de/ Ob Steven Hawking, Stevie Wonder, Ludwig von Beethoven, Andrea Bocelli, Helen Keller, Frida Kahlo – um nur einige Prominente zu nennen – sie alle haben Übermenschliches geleistet! Doch was ist der Grund? Die Behinderung an sich oder die Motivation, die dahintersteht? Albert Einstein beispielsweise hatte das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus, ist aber der Urvater der Relativitätstheorie, besiegt der Wille letztendlich den gebrechlichen Körper?
Zitelmann: Natürlich ist Behinderung keine Bedingung für Erfolg. Die allermeisten erfolgreichen Menschen sind nicht behindert. Aber wir können von diesen erfolgreichen Menschen mit Behinderung eine Menge lernen. Meine Botschaft lautet vor allem: Wenn du, der du keine Behinderung hast, die gleiche Kraft und Energie aufwenden würdest wie beispielsweise ein Nick Vujicic (der Motivationsredner ohne Arme und Beine) oder wie James Holmann, der als Blinder 400,000 Kilometer reiste – was könntest du dann erst erreichen?
Eindrücklich ist ihr Beispiel von Erik Weihenmayer, einem Blinden, der den Mount Everest bezwungen hat. Aber für die Mehrzahl der Blinden bleibt dieser Erfolg unmöglich! Also doch nur ein geglückter Einzelfall?
Zitelmann: Generell bleibt die Mehrheit der Menschen ohne großen Erfolg im Leben. Egal ob mit oder ohne Behinderung. Helden sind immer Helden, weil sie anders sind als die meisten. Aber solche Menschen können uns Motivation geben. Und wir können von ihnen lernen.
Über Jahre wurde über die sogenannte Präimplantationsdiagnostik in der Bundesrepublik und deren Zulassung gestritten. Die genetische Untersuchung von Zellen eines nach künstlicher Befruchtung gezeugten Embryos in vitro vor seiner Übertragung in die Gebärmutter geschieht ja um Chromosomenstörungen oder durch Genveränderungen verursachte und ererbte genetische Erkrankungen zu erkennen und im Zweifelfall den Embryo zu vernichten. In Deutschland ist die PID nach wie vor verboten. Es ist eine Selektion, die gegen die Behinderung und für die Gesunden spricht. Wie passt das zu einigen von Ihren „erfolgreichen“ Menschen, die bei dieser Methode möglicherweise gar nicht das Licht der Welt erblickt hätten?
Der Vater, Boris Vujicic, war bei der Geburt seines Kindes dabei und sah, wie Nicks Kopf und Hals herauskamen, und er merkte sofort, dass mit der rechten Schulter etwas nicht stimmte: „Zuerst hatte sie für mich nur eine eigenartige Form, und dann wurde mir klar, dass offensichtlich ein Arm fehlte. Aus meinem Blickwinkel war es schwer auszumachen. Die Schwestern rückten näher heran und verstellten mir die Sicht.“ Die Mutter, die selbst von Beruf Hebamme war, hatte eigentlich damit gerechnet, dass die Hebamme mit dem Baby auf sie zukommen und es ihr in den Arm legen würde. Das ist der normale Ablauf. Als dies nicht geschah, wurde sie nervös: „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie. Die Frage blieb ohne Antwort. Sie fragte noch einmal, diesmal mit Nachdruck, aber wieder kam keine Antwort. Der Vater erinnerte sich später: „Als niemand auf meine Frau reagierte, wurde mir übel und ich umklammerte meinen Bauch. Wortlos geleitete mich eine Schwester nach draußen. Auf dem Weg zur Tür schnappte ich ein Wort auf: Phokomelie.“
„Ich muss mit Ihnen über Ihr Kind reden“, sagte der Arzt.
„Ihm fehlt ein Arm“, platzte der Vater dazwischen.
„Ihr Kind hat weder Arme noch Beine.“
„Was? Gar keine Arme? Und keine Beine?“
Der Arzt nickte. Später erklärte er ihm, dass Phokomelie der Fachausdruck für missgebildete Gliedmaßen sei. „Ich habe noch nie einen richtigen Boxschlag gegen den Kopf bekommen, aber so stelle ich mir das Gefühl vor… Mein Kopf raste, aber mein ganzer Körper fühlte sich taub an.“
Boris Vujicic überlegte sich, wie er es seiner Frau sagen sollte, doch sie war schon durch die Ärzte informiert worden. Sie wollte das Kind nicht sehen. „Soll ich ihn bringen?“, fragte ihr Mann. Sie schüttelte mit dem Kopf und schluchzte in ihr Kissen. Nicks Vater erinnerte sich später: „Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Unser Leben, wie wir es kannten, war vorbei.“ Er war bestürzt, dass seine Frau auch nach zwei Tagen den Sohn nicht sehen wollte. Als die Mitarbeiterin der Sozialstation im Krankenhaus sah, wie sehr sie unter der Situation litt, legte sie den Eltern behutsam die Möglichkeit einer Adoption nah. „Als uns die Realität eines Kindes ohne Gliedmaßen einholte, brach für uns eine Welt zusammen… Die Vorfreude war einem Schock gewichen… Unser ganzes Leben versank im Chaos“, erinnert sich Nicks Vater.
Später nahmen sie das Kind an und Nick Vujicic hat heute eine schöne Frau, vier Kinder, eine eigene Firma und begeistert auf der Welt Millionen Menschen.
Sie zeichnen ein positives Bild von Behinderten, das ist sicherlich eine tolle Motivation für viele Menschen. Aber die Realität sieht anders aus: Familien leiden unter dem Druck. Kinder werden durch Mitschüler stigmatisiert, der organisatorische Umgang mit Behinderten in der realen Welt überfordert oft Familie und Gesellschaft psychisch und physisch. Behinderteneinrichtungen sind außerhalb der Städte, Behinderte werden nach wie vor mit Vorurteilen bombardiert und können sich oft nicht wehren. Ist Behindertsein in einer Turbo- und Leistungsgesellschaft doch nicht etwas, was dem Geist des Neoliberalismus mit seinem Schneller, Höher und Weiter widerstrebt? In Zeiten von zunehmender Säkularisierung wird nicht nur die Gottes-Ebenbildlichkeit des behinderten Menschen in Frage gestellt, sondern alles zunehmend dafür getan, dass Behinderungen verschwinden. Was ist das dann aber für eine Gesellschaft?
Zitelmann: Es ist heute modern zu behaupten, früher sei alles besser gewesen. Vermutlich haben die Menschen das immer behauptet. Glauben Sie wirklich, im Mittelalter oder gar in der Urzeit hätten Behinderte ein besseres Leben geführt als in der von Ihnen so bezeichneten „Turbo- und Leistungsgesellschaft“ heute? Natürlich gibt es viele Probleme und es bleibt viel zu tun. Der Physiker Stephen Hawking, der nicht nur im Rollstuhl saß, sondern sich irgendwann nur noch mit einem Computer verständigen konnte, meinte jedoch behinderte Menschen sollten sich „auf die Dinge konzentrieren, die ihnen möglich sind, statt solchen hinterherzutrauern, die ihnen nicht möglich sind“. Seine Biografen Michael White und John Gribbin meinen, es stehe fest, dass Hawking niemals so rasch derart schwindelnde Höhen erklommen hätte, wenn er seine Zeit in Ausschüssen, Konferenzen oder mit der Durchsicht von Bewerbungsunterlagen hätte verbringen müssen. Was glauben Sie, wer Behinderten mehr hilft: Derjenige der sie als Opfer sieht und ihnen sagt, wie aussichtslos ihre Situation im Zeitalter des Neoliberalismus sei? Oder jemand wie Hawking?
Neben körperlichen Behinderungen gibt es schwere mentale Retardierung mit starken Einschränkungen der emotionalen und kognitiven Leistung. Hier gibt es kein „Ich will“ und keine glanzvollen Persönlichkeiten. Muss man den Erfolgsbegriff nicht umdefinieren und sind nicht die vielen Menschen, die den Betroffenen Hilfe leisten, eigentlich die wahren Persönlichkeiten?
Zitelmann: Eine dieser Heldinnen porträtiere ich in dem Buch. Das ist Anna Sullivan, die vor allem als Lehrerin von Helen Keller bekannt wurde. Helen Keller war blind und taubstumm, und sie hätte von alleine nie in die Welt finden können ohne ihre Lehrerin. Und ja, in meinem Buch geht es vor allem um Menschen mit körperlicher Behinderung. Aber es werden auch ausführlich zwei Menschen porträtiert, die erhebliche psychische Probleme hatten: Einer litt unter Schizophrenie – der Mathematiker John Forbes Nash. Der andere ist Vincent van Gogh, der Begründer der Malerei.
„Ein Leben mit Down-Syndrom ist was Besonderes,“ schrieb eine Betroffene, aber warum werden diese Stimmen in der Gesellschaft nicht wahrgenommen, sondern nur Menschen, die es trotz ihrer Behinderung zu Ruhm und Erfolg geschafft haben?
Zitelmann: Ich beschreibe ja in meinem Buch diejenigen, die es irgendwie zu einer Bekanntheit gebracht haben. Aber natürlich gibt es viele andere, die keiner kennt und die auch Bewundernswertes leisten. Ich glaube aber nicht, wir sollten Behinderung idealisieren. Johann König, der blind war, als er seine Galerie eröffnete, sagte mir im Gespräch: Nein, man solle Behinderung nicht romantisch verklären, Behinderung sei ein Nachteil, das könne man nicht wegargumentieren. Aber, so fügte er hinzu: „Man muss ja das Unabänderliche akzeptieren und dann sehen, wie man das Beste daraus macht. Ich sah für mich damals auch gar keine andere Alternative.“ Wissen Sie, mein Wahlspruch lautet: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann – und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Ich denke, wem das immer besser gelingt, der kann von einem gelungenen Leben sprechen.
Welche Botschaft ist Ihnen besonders wichtig?
Heute wollen sich viele Menschen als Opfer sehen. Opfer des Kapitalismus, Opfer des Kolonialismus, Opfer von Diskriminierung, Opfer von Sexismus, Rassismus usw. Ich denke, diese Menschen tun sich selbst keinen Gefallen. Und auch sonst niemandem. Ich habe Felix Klieser kennen und schätzen gelernt, ein junger Mann aus Hannover. Er gilt als einer der besten Hornisten der Welt. Er wurde ohne Arme geboren. So wie alle erfolgreichen Menschen sieht Klieser sich als Gestalter des eigenen Schicksals und nicht als Opfer widriger Umstände: „Ich hätte natürlich auch meine Energie darauf verwenden können, mich selbst zu bemitleiden und der Welt zu erzählen, wie gemein alles ist“, sagte er mir. „Aber jeder, der dies mal getan hat, wird sehr schnell merken, dass es zu keinem verbesserten Ergebnis führt.“
Fragen: Stefan Groß
Zum Buch: "Ich will,Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können"
Zitelmann beleuchtet in seinem neuen Buch ungewöhnlich erfolgreiche Menschen - Persönlichkeiten, die trotz Behinderung geradezu Übermenschliches geleistet haben: ein Blinder, der den Mount Everest bestiegen hat, ein Weltreisender, der schon vor 200 Jahren blind 400.000 Kilometer zurücklegte, ein Motivationsredner ohne Arme und Beine, eine erfolgreiche Unternehmerin im Rollstuhl, eine taubblinde Schriftstellerin und ein weltberühmter Schauspieler mit Parkinson. 20 faszinierende Porträts, die verraten, was man von diesen Erfolgsmenschen lernen kann!
Saliya Kahawatte, den viele aus seinem Film „Blind Date mit dem Leben“ kennen, schreibt im Vorwort: „Wenn Sie es mögen, betrachten Sie dieses Buch gern als eine Fundgrube menschlicher Diamanten. Wir alle wissen, dass jeder dieser seltenen Edelsteine früher einmal ein gewöhnliches Stück Kohle war, das über lange Zeit gewaltigem Druck standhielt, so seine Stabilität erhielt und erst durch gezieltes, präzises Schleifen seinen einzigartigen Glanz erreichte.“