Sind die Corona-Maßnahmen eigentlich gerechtfertigt?
Sind die nun weltweit getroffenen Massnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus ethisch gerechtfertigt? In den Medien werden derzeit hauptsächlich zwei Lager von Ethikern einander gegenübergestellt. Von Mathias Schüz.

In zahlreichen Ländern hat die COVID-19-Pandemie zu einem partiellen Lockdown der Wirtschaft geführt. Um das Leben von gefährdeten Personen zu schützen, werden immer wieder grosse Einschränkungen im Alltags- und Wirtschaftsleben beschlossen. Dies hat sehr starke ökonomische Auswirkungen, deren Ausmass im Endeffekt sich heute kaum abschätzen lässt, und die für Millionen Menschen einschneidende, ja existenzbedrohende Konsequenzen haben. Sind die nun weltweit getroffenen Massnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus ethisch gerechtfertigt? Wenn die Ethik nach dem guten Miteinanderauskommen fragt, so gibt es unterschiedliche Antworten. In den Medien werden derzeit hauptsächlich zwei Lager von Ethikern einander gegenübergestellt.
Die Nüztlichkeitsethiker (Utilitaristen) fordern, das Wohlbefinden der Mehrheit müsse sichergestellt werden. Demzufolge sei es abwegig, die Mehrheit auf Kosten einer Minderheit vornehmlich alter oder gesundheitlich vorbelasteter Menschen leiden zu lassen. Sie favorisieren die Lösung der „Herdenimmunität“, vornehmlich in Schweden praktiziert – nach dem Motto: „Lass dem Coronavirus freien Lauf, dann wird zwar eine kleine Minderheit der Alten und Kranken sterben, aber der überwiegende Teil der Menschheit - die Jungen und Gesunden – wird, nunmehr immun gegen das Virus, überleben, und die Wirtschaft obendrein noch geringere Einbussen haben.“ Ausserdem argumentieren sie, daß die durch Lockdowns vermiedenen Schäden bei weitem nicht so groß sind wie die daraus resultierenden Nachteile. So stellen Rückversicherungen schon jetzt weltweit ein massives Anwachsen der Zahl von Suiziden fest - aus Verzweiflung über den Verlust ihrer Einkommen oder Bewegungsfreiheit. Ethisch handelt, wer die kurz- und langfristigen Folgen gegeneinander abwägt und dem Gesamtnutzen bzw. Gemeinwohl den Vorzug gibt.
Die Pflichtenethiker (Deontologen) vertreten das Gegenteil. Für sie gibt es die rote Linie der Menschenrechte, denen zufolge alle Menschen die gleiche unantastbare Würde besitzen – ob jung, alt, schwach oder krank. Alles sei daran zu setzen, um ihr Leben zu erhalten, niemand dürfe bevorzugt und zugunsten anderer geopfert werden. Im Zweifel müsse eben die Wirtschaft zugunsten eines optimal wirksamen Gesundheitssystems zurücktreten. Deshalb raten sie dazu, möglichst alle Menschen zu isolieren, um die Ansteckungsgefahr für die Alten und Kranken zu minimieren. Auch sie argumentieren mit dem Freiheitsgebot, demzufolge die Freiheit an der Grenze der Freiheit des anderen endet, wenn dieser durch jene in Not gerät. Ethisch handelt, wer mit seiner Gesinnung alles daransetzt, Menschenleben zu retten. Dass sie damit unter Berufung der Menschenrechte diese zugleich auch einschränken müssen, mutet paradox an, entspricht aber dem typischen Problem eines Güterkonfliktes, denen Deontologen oft ausgesetzt sind.
Mit dem weltweiten Lockdown hat sich anscheinend die zweite Gruppe durchgesetzt. Die dafür verantwortlichen Politiker rechtfertigen ihre Entscheidung unter Hinweis auf die Menschenrechte. Das ist begrüssenswert, wenn man bedenkt, wie noch in der jüngeren Geschichte die Ermordung von Minderheiten oder Andersdenkenden mit dem Gemeinwohl gerechtfertigt wurde.
Bei genauerem Hinsehen haben jedoch die Argumente beider Lager fundamentale Schwächen. Denn die Pflichtenethiker laufen Gefahr, in guter Gesinnung kurzfristig das Leben besonders Gefährdeter zu retten, langfristig aber mit dem Lockdown jenes anderer Menschen aufs Spiel zu setzen. Beispielsweise hatte in Indien die verordnete Ausgangssperre zu einer Massenmigration geführt. Unzählige Menschen konnten sich die teuren Agglomerationen nicht mehr leisten und kehrten deshalb in ihre Heimatdörfer mit niedrigeren Lebenshaltungskosten zurück. In überfüllten Bussen drohten sie nun erst recht das Coronavirus zu verbreiten. Zudem sind Millionen von Tagelöhnern, die nun keine Arbeit mehr haben, auf Spenden von privaten Organisationen angewiesen, um überhaupt physisch überleben zu können.
Die Nützlichkeitsethiker hingegen schützen kurzfristig die Wirtschaft und damit das Leben der Mehrheit, lassen jedoch das vermeidbare Leid von Minderheiten ausser Acht, und zerstören damit fundamentale Errungenschaften der neuzeitlichen Aufklärung. Konkret zeigt sich das in dem sogenannten Triage-Problem, bei der in französischen oder spanischen Krankenhäusern zur Behandlung von zwei schwer am Coronavirus erkrankten Patienten nur ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht. Wem sollen die lebensrettenden Massnahmen nun gegeben werden? Manche Utilitaristen empfehlen explizit, jüngeren Patienten den Vorzug zu geben.
Die Pflichtenethiker lehnen solche Präferenzen ab, da kein Mensch gegenüber einem anderen einen höheren Eigenwert hat. So dürfen gemäss der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin keine Entscheidungen nach „Alter, Geschlecht, Wohnort, Nationalität, religiöser Zugehörigkeit, sozialer Stellung, Versicherungsstatus oder chronischer Behinderung“ getroffen werden.
Ist nun der Konflikt zwischen den einander widersprechenden Ethikansätze lösbar? Ja, denn es gibt es noch Anhänger des dritten Ansatzes: Die Tugendethiker (Aretologen) könnten als Zünglein an der Waage gewissermassen eine Gewaltenteilung in der Abwägung von ethischen Dilemmata bewirken. Sie untersuchen nämlich die Situation und vorhandenen Ressourcen sowie die Fähigkeiten der Akteure, um ein gegebenes Problem zu lösen.
So empfiehlt die Gesellschaft für Intensivmedizin trotz ihrer deontologischen Grundhaltung bei Ressourcenknappheit des Triage-Problems die Überlebenschancen der Patienten - also einen utilitaristischen Gesichtspunkt – zu berücksichtigen. Der behandelnde Arzt soll sich auf beide Ethikansätze beziehen. Eine Entscheidung über den Einsatz eines Beatmungsgerätes zu Gunsten des einen oder anderen schwer Erkrankten kann er nur nach bestem Wissen und Gewissen treffen. Damit dies gelingt, sollte er über Tugenden wie Lebenserfahrung, Intuition und Empathie für die Betroffenen verfügen. Vielleicht kommt dann seine letztendliche Entscheidung doch beiden Patienten zugute - oder auch nicht. Wie die Praxis zeigt, müssen die behandelnden Ärzte im letzten Fall mit dem schlechten Ausgang leben und ihre Schuldgefühle verarbeiten. Mit der Akzeptanz, dass menschliches Handeln prinzipiell scheitern kann, wächst vielleicht der Mut, sich solchen Grenzsituationen des Lebens immer wieder neu zu stellen.
Auch für die einzelnen Staaten und die Weltgemeinschaft stellt die gegenwärtige Situation einen Härtetest dar, in dem sie verschiedene Positionen und Interessen abwägen müssen. In solchen Abwägungsprozessen sind Tugenden wie Achtsamkeit, Empathie, aber auch Mut und Selbstbeherrschung gefragt. Dass einzelne Staaten dabei zu unterschiedlichen, teils sogar konträren Lösungen gekommen sind, zeigt gerade die situationsbezogene Offenheit tugendethischer Überlegungen, zumal auch die (nicht-)vorhandenen Ressourcen berücksichtigt werden müssen So können sich nur wenige Länder eine Finanzierung von Kurzarbeit leisten.
Die Entscheidungen sollten niemals im Alleingang getroffen werden, sondern immer im Diskurs mit Vertretern unterschiedlicher Interessengruppen. Wichtig ist die gleichberechtigte und transparente Berücksichtigung konträrer Expertenmeinungen und die entsprechende Kommunikation der Entscheidungsfindung. Der Ausschluss von Ansichten, die dem vermeintlichen Mainstream entgegenstehen, ist da mit grossen Risiken verbunden. So macht es beispielsweise wenig Sinn, die unterschiedliche Einschätzung der beiden deutschen Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck bezüglich des Risikos einer Covid-19-Ansteckung und die daraus folgenden Massnahmen unter den Teppich zu kehren.
Solche Verschleierungsversuche gießen Öl ins Feuer von Verschwörungstheorien. Diese sind Ausdruck einer kollektiven Angst vor dem Unbekannten und werden daher von Gegnern wie Befürwortern gleichermassen dazu genutzt, die jeweils gegnerische Meinung zu diskreditieren. Es liegt auf der Hand, daß dieses Vorgehen wenig zum guten Miteinanderauskommen beiträgt, stattdessen einen Teufelskreis in Gang setzt.
Hingegen ist die Akzeptanz abweichender Meinungen eine hohe Tugend. Der Respekt vor der Meinungsvielfalt sowohl von Experten wie Laien, aber auch die Berücksichtigung der Vielfalt auf dem Spiel stehenden Interessen ist die eigentliche Herausforderung einer verantwortungsvollen Bewältigung der Pandemie. Der grosse Ethiker und Begründer der neuzeitlichen Ökonomie, Adam Smith, hat bei ethischen wie auch politischen Entscheidungen auf die wichtige Rolle des „unparteiischen Beobachters“ verwiesen. Dieser zeichnet sich dadurch aus, daß er Entscheidungen auch entgegen den eigenen Interessen treffen kann. Denn er will ethische Konflikte auf Grund seines „universellen Wohlwollens“, möglichst zugunsten aller Betroffenen langfristig zu lösen. Dies kann individuell geschehen, indem die verantwortlichen Akteure selbstkritisch ihre eigene Position in Frage stellen und achtsam auf die der anderen Beteiligten eingehen. Dies kann aber auch im Kollektiv geschehen, indem, wie Smith fordert, neutrale Länder eine Schlichterrolle übernehmen und Empfehlungen aussprechen. In der Coronakrise könnte diese Funktion vielleicht die UNO oder WHO übernehmen.
Sicherlich erlaubt der Zeitdruck zu Beginn einer plötzlich entstandenen Pandemie kaum langatmige Diskurse. Diese hätten prophylaktisch als ausgewogene Lösungsvorschläge eines Krisenszenarios schon vor Ausbruch der aktuellen Pandemie durchgeführt werden sollen. Nach den Erfahrungen der ersten SARS-Corona-Epidemie von 2002 haben eine Reihe von Ländern ihre Lektion gelernt und zumindest Risikoanalysen und Bewältigungsstrategien ausgearbeitet. Taiwan, Singapur und Südkorea haben auf Grund solcher vorausschauenden Studien ihre Gesundheitssysteme darauf vorbereitet. Auch der Deutsche Bundestag hatte im
Jahre 2012 eine ausführliche Risikostudie zu einer drohenden Pandemie durch ein SARS-Corona-Virus ausarbeiten lassen. So dürfte die Bundesregierung wie manche andere Länder auch nicht ganz unvorbereitet gewesen sein.
Es wäre nun zu prüfen, inwieweit die vielfältigen Lösungsansätze zur Bewältigung der Corona-Krise, die weltweit innerhalb der einzelnen Nationen getroffen wurden, tatsächlich auf einem transparenten Abwägungsprozess im Sinne der drei Ethikansätze basierten, oder ob nicht doch verborgene Interessen einzelner Gruppierungen den Ausschlag für den einen oder anderen Weg gegeben haben.
Gerade im Hinblick auf weitere Ansteckungswellen durch Covid-19 sollten die Entscheidungen inter-, wenn nicht gar transdisziplinär getroffen werden. Angesichts der komplexen Neben-, Rück- und Fernwirkungen sollten nicht nur Erkenntnisse von Virologen, Epidemiologen und Immunologen, sondern auch die anderer medizinischer Fachgebiete einschliesslich der Alternativmedizin berücksichtigt werden. Selbstverständlich dürfen auch die Empfehlungen von (Sozial-)Psychologen, Ökonomen, Betriebswirten, Juristen und Philosophen sowie Risk-Managern nicht ignoriert werden. Sonst fahren die politischen Entscheider nur auf Sicht und stochern im Nebel. Die Tugendethik fordert auch, mit Achtsamkeit, Anerkennung, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Empathie, Fairness, Flexibilität, Kreativität, Mässigung, Mut, Offenheit, Rücksichtnahme, Sensibilität, Toleranz, Vertrauenswürdigkeit, Weisheit, Wertschätzung und Zusammenarbeit den Einzeldisziplinen wie den verschiedenen Interessengruppen (Stakeholdern) zu begegnen.
Behördliche Erzwingung von Tracking-Apps, von Impfungen - vor allem unter Einsatz von neuartigen, noch nicht erprobten Vakzinen, von Immunitätsausweisen mit Potential zur Stigmatisierung oder Ausgrenzung vom sozialen Leben ist im Hinblick auf die Verletzung von Menschenrechten aus deontologischer Sicht mehr als fraglich. Sie berauben weite Teile der Bevölkerung ihrer Autonomie - der entscheidende Grundwert der neuzeitlichen Aufklärung.