Wird Corona zum Turbolader der deutschen Wirtschaft?
Über die Gefahren der weltweiten Pandemie wird viel diskutiert. In seinem neuen Buch beleuchten der aus dem Fernsehen bekannte Wirtschafts- und Börsenexperte Markus Gürne und seine Co-Autorin Bettina Seidl, dass die Disruption aber auch Chancen eröffnet.

Ein Bereich, bei dem Deutschland schon seit geraumer Zeit im Spitzenfeld mitwirkt: die Roboterisierung. In der deutschen Industrie kommen auf 10.000 Arbeitnehmer 338 Roboter. Das ist nach Singapur und Südkorea die höchste Dichte weltweit, so teilt es der Verband, die International Federation of Robotics (IFR), mit. War der Einsatz von Robotern bisher schon hoch, so wird sich der Trend weiter verstärken, schätzt Dalia Marin vom Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität zu München. Weil die Lohnkosten in der Produktion nicht mehr die entscheidende Größe seien, rechne sich die Rückverlagerung nach Deutschland.
Die meisten Industrieroboter sind in den beiden Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft zu finden: in der Automobilindustrie und im Maschinenbau. Beide Branchen haben weltweit einen Bedarf, der bei weit über einem Drittel aller eingesetzten Roboter liegt. Und der Einsatz wird zunehmen – auch in anderen Bereichen der Wirtschaft. Denn die Geräte werden kleiner und billiger, da die Programmierung schneller, einfacher und damit auch kostengünstiger ist. Und Kosten zu senken, ist in den Zeiten nach der Coronakrise einer der wichtigsten Faktoren überhaupt.
Kollege Roboter hat für die Wirtschaft noch einen weiteren großen Vorteil: Er macht keine Pausen und braucht keinen Urlaub. In der Coronakrise haben sie sich weiter in den Alltag vorgedrängt. In Singapur werden sie zur Beachtung der Hygieneregeln eingesetzt, ein Roboter-Hund, der Parkbesuche auf die Abstandsregeln hinweist, ein Krankenhaus-Roboter, der Zimmer desinfiziert.
Der Roboter übernimmt die Führung
Die Bedeutung der Industrie wird nach den massiven Veränderungen in der Wirtschaftslandschaft nach Corona steigen. Zum einen, weil die meisten Industrieunternehmen einfach so groß sind, dass sie eine Krise leichter überstehen können. Zum anderen, weil diese großen Konzerne bereits seit Mitte der 1990er-Jahre verstärkt in Roboter investiert haben. Und weil viele unserer Industrieunternehmen Perlen der deutschen Wirtschaft sind, staatliche Unterstützung oder gar Beteiligung erfahren.
Corona hat tektonische Verschiebungen in der Weltwirtschaft ausgelöst, die sogar eine Renaissance der Industrie in Deutschland und in anderen reichen Industrieländern in Europa bewirken können, so Dalia Marin. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung werde steigen, auch wenn dies nicht unbedingt den Beschäftigten zugutekäme.
Der Coronavirus kann mittelfristig ein Turbolader ungeahnter Stärke für unser Leben und unsere Wirtschaft sein. Denn die Entwicklung der bisherigen Technologien wird sich weiter beschleunigen. Auch hier gibt es eine Parallele zwischen dem Coronavirus und Daten, Technologie und künstlicher Intelligenz: Grenzen werden eingerissen. Wissen ist durch das Internet für die ganze Welt da. Das wird Wirtschaft und Handel noch rasanter verändern als bisher, weil Technologien wie Robotik und künstliche Intelligenz den entscheidenden Vorteil haben, effizienter, einfacher zu bedienen und vor allem preisgünstiger zu sein. Durch Automatisierung und Übersetzungsprogramme wird es unerheblich sein, wo auf der Welt Produkte zum Beispiel mittels 3-D-Drucks hergestellt werden. Man muss bloß eine Lizenz für ein Produkt kaufen und benötigt natürlich einen 3-D-Drucker. Das wird sicher nicht für alle Produktgruppen gleichermaßen gelten, aber die Palette der Möglichkeiten wird sich immens verbreitern. Automatisierung und Roboterisierung müssen nicht einmal einen negativen Effekt auf die Beschäftigung haben. Der International Federation of Robotics (IFR) zufolge sind Roboter keineswegs Jobkiller, sondern schaffen im Gegenteil neue Arbeitsplätze, weil sie Unternehmen produktiver und damit wettbewerbsfähiger machen.
Künstliche Intelligenz intelligent nutzen
Wie können wir Erfahrungen effizient nutzen? Können wir Maschinen intelligenter machen? Dazu forschen Wissenschaftler an Modellen, um künstliche Intelligenz zu schaffen: Sie versuchen, menschliches Lernen und Denken auf den Computer zu übertragen, Funktionen unseres Gehirns nachzubauen, sodass KI selbstständig Antworten und Lösungen finden kann. Es gibt sowohl viele verschiedene Arten von Modellen als auch unterschiedliche Techniken dafür, Modelle zu erstellen. Zum Beispiel im Maschinenbau. Dort sollen Frühwarnsysteme lernen, Mechanismen zu entwickeln, die rechtzeitig einen Fehler erkennen und einem Ausfall der Maschine auf diese Weise vorzubeugen.
Künstliche Intelligenz ist ein enormer Wirtschaftsfaktor. Sie verbindet Effektivität und Effizienz in höchstem Maße. Vielleicht werden wir uns künftig nicht mehr auf Dienstreise begeben müssen, sondern treffen uns mit Virtual-Reality-Brillen in künstlich geschaffenen Räumen. Möglich ist das bereits alles. Denn die virtuelle Welt gibt es schon längst. In der Telemedizin und in der Industrie werden diese künstlichen Räume ständig mehr. Zwar bewegen sich die Menschen dann real auf einer kleinen Fläche im heimischen Wohnzimmer oder im Büro, aber durch die visuelle Täuschung der VR-Brille befinden sie sich in riesigen Fabrikhallen oder Großraumbüros an einem anderen, künstlichen Ort.
Klingt so, als würden die Menschen auf der Strecke bleiben. Ja, in gewisser Weise stimmt das. Arbeit im herkömmlichen Sinne wird sich verändern, und zwar schneller als je zuvor. Manche Berufe, die bisher in Unternehmen ganz selbstverständlich waren, werden durch Technologien wie Robotik verändert, einige werden verschwinden. Doch es werden auch viele neue entstehen, auch viele höherqualifizierte. Daher ist es so immens wichtig, in Bildung und digitale Kenntnisse zu investieren.
Die Gefahren im Netz
Es tun sich in der Summe nahezu unbegrenzte Möglichkeiten auf. Und gleichzeitig Gefahren, denn das Netz ist kein neutraler Ort, sondern ideal auch für Gauner aller Art: Hacker, die im Netz Daten abgreifen und damit Konten leer räumen, Geschäfte schädigen oder Menschen manipulieren. Oder ganze Unternehmen. In aller Welt.
Wie am 12. Mai 2017, als ein Schadprogramm namens »Wannacry« 230.000 Rechner in 150 Ländern infizierte und die Cyber-Angreifer Lösegeld von den Unternehmen verlangten. Eines davon war eine Tochter der »Deutschen Bahn« – das Logistik-Unternehmen Schenker. Sichtbar wurde dies sogar für Reisende an den Bahnhöfen, denn Anzeigetafeln fielen aus. »Wannacry« war auch deshalb so gefährlich, weil sich die Schadsoftware ohne Zutun der Nutzer verbreiten konnte. Sonst sind Virenprogramme oft als Anhang einer Mail beigefügt. Wird diese geöffnet, infiziert sie den Rechner. Bei »Wannacry« war das anders. Die Schadsoftware nutzte eine Schwachstelle aus, die auf vielen PCs mit älteren Betriebssystemen zu finden war.
Dieser Angriff ging wie der Coronavirus um die Welt. Ein Angriff mit Nachhall. Alle Branchen und auch staatliche Einrichtungen können Ziel von Cyberangriffen werden. Besonders gefährdet sind die Wasser- oder Energieversorgung und natürlich Atomkraftwerke. »Dies kann insbesondere in Netzwerken von Unternehmen und Organisationen zu großflächigen Systemausfällen führen«, heißt es beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI).
Aufrüstung gegen Angriffe ist dringend nötig, denn nach wie vor ist es um die IT-Sicherheit nicht immer bestens bestellt. Ein Sorgenfaktor gerade auch während der Coronakrise, als deutsche Kliniken und Unternehmen der Pharmaindustrie verstärkt ins Visier von Hackern gerieten. Das BSI bemerkte eine Zunahme von Cyberangriffen mit Bezug auf den Coronavirus. Ende März 2020 berichtete die Behörde von Attacken einer chinesischen Hackergruppe mit dem Namen APT41, die seit Ausbruch der Corona-Pandemie vermehrt ausländische Ziele angreife, auch Gesundheitseinrichtungen. »APT41 wird eine Verbindung zur chinesischen Regierung unterstellt, sodass Informationsdiebstahl das wahrscheinlichste Tatmotiv ist«, heißt es in dem internen BSI-Lagebericht.
Am IT-Schutz haben viele Unternehmen gespart, große Konzerne, vor allem aber die kleinen Selbstständigen und mittleren Unternehmen. Sie haben begrenzte Geldmittel, die meist schon dafür draufgehen, bei Innovationen vorn mit dabei zu sein. Für den digitalen Schutz aber, der ein großer Kostenfaktor ist, reicht es dann oft nicht mehr.
An dieser Stelle umzudenken, wird immer wichtiger werden, denn die Angriffsflächen nehmen zu. Ob Digitalisierung, Robotik oder die intelligent vernetzte Fabrik, die unter dem Schlagwort Industrie 4.0 bekannt ist. In der digitalisierten Zukunft werden alle Maschinen und die von ihnen produzierten Güter mit Sensoren ausgerüstet sein. Sie kommunizieren ständig. Nicht nur untereinander, sondern mit anderen Systemen. In der Industrie 4.0 etwa werden Produktion, Vertrieb, Entwicklung, sogar Kunden und Lieferanten in die vernetzte Welt eingebunden. Eine schöne neue Produktionswelt – in der die Angriffsmöglichkeiten so unendlich sind wie die Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft. Lösegeld-Forderungen, staatlich organisierte Angriffe über Geheimdienste oder Terroranschläge – alles, was es in unserer analogen Welt an Kriminalität gab, wird uns ebenso in der digitalen Welt begegnen.
Dennoch, die Entwicklungen hin zu mehr Technologie in der Wirtschaft nach Corona werden sich nicht zurückdrehen lassen, sie werden zunehmen. Durch den Virus schneller als bisher. Wir müssen für den Schutz unserer digitalen Infrastruktur deutlich mehr Geld in die Hand nehmen.
Autobranche auf der Fahrt ins Ungewisse
Für die Automobilindustrie bringen Digitalisierungstrend und Corona die wohl einschneidendsten Veränderungen. Sie ist zugleich eine unserer wichtigsten Branchen und kann getrost als systemrelevant für Deutschland bezeichnet werden. Kaum eine Industrie ist so bedeutsam, wenn es darum geht, gut bezahlte und sichere Arbeitsplätze vorzuhalten sowie Produkte zu erfinden, zu bauen und anzubieten, die in der ganzen Welt begehrt sind und gerne gekauft werden. Wer irgendwo in der Welt in einem Auto aus Deutschland unterwegs ist, setzt auf Qualität und hat offenbar auch Geld, denn die Fabrikate haben in allen Klassen ihren Preis.
Das Auto wurde in Deutschland erfunden, deshalb haben wir eine besondere Beziehung zu ihm. Es gibt kein Tempolimit auf Autobahnen und einen besonderen Schutzmechanismus der Politik für die Hersteller. Und die Konsumenten in Deutschland zeigen gerne, welche vier Räder sie vor der Tür oder in der Garage stehen haben.
Jahrzehntelang haben die Autokonzerne dafür gesorgt, dass sich in vielen Teilen Deutschlands zahlreiche Zulieferbetriebe ansiedeln konnten, die ebenfalls ausgesprochen gut davon lebten, dass Premiumwagen gefragt waren. Und auch die Städte und Kommunen profitierten von den Fabriken und Zentralen von Daimler, BMW, Volkswagen, Porsche und Co. Es flossen reichlich Steuern in die Kassen der Finanzämter, von Firmen wie Mitarbeiter*innen. Es war eine goldene Zeit – die nun erst einmal vorbei zu sein scheint. Denn die Zukunft sieht nicht gerade rosig aus für Deutschlands Vorzeigeindustrie.
Wochenlang standen die Bänder in den Fabriken still. In China, wo die Deutschen besonders viel produzieren und verkaufen, im wichtigsten Absatzmarkt, fehlte es an Bauteilen und Arbeitern, die in die Werke kommen konnten. Der Virus und der Schutz vor ihm legten die Produktion lahm. Als die Bänder in Asien langsam wieder anliefen, war der Virus in Europa angekommen, und die Autofirmen mussten dort die Werke schließen.
Hersteller, die keine Autos bauen können, haben ein Problem. Das ließ sich zwar wieder beheben, als die Fabriken nach der Coronakrise wieder anliefen. Doch der vorherige Produktionsstopp war ausgesprochen teuer für alle Hersteller weltweit. Dank gut gefüllter Kassen einiger, und dazu gehörten die deutschen Hersteller glücklicherweise bisher, ließ sich das eine Zeit lang durchhalten. Bis zur Wiederaufnahme der Fertigung konnten Maschinen gewartet werden. Richtig viel Arbeit hatten die Teams aber, die dafür sorgten, dass beim Anfahren der Bänder all das, was erforderlich ist für den reibungslosen Ablauf in einer Fabrik, zur richtigen Zeit am richtigen Ort und in entsprechender Anzahl vorhanden ist.
Eine Just-in-time-Produktion wieder hochzufahren, ist komplex. Denn alle Zahnräder müssen ineinandergreifen, und das werden sie nicht reibungslos beim Anfahren. Problematisch ist auch der Nachfrageschock, der noch länger anhalten dürfte: Wie viele Autos sollen die Hersteller denn eigentlich jetzt bauen? Wer wird Autos kaufen? Welche Modelle? Und zu welchem Preis?
Analysten von Banken, Händler an der Börse, kleine Anleger*innen genauso wie die knapp eine Million Beschäftigten der Autoindustrie stellen diese Fragen. Die Antwort hängt entscheidend davon ab, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Ob sie sich nach einem tiefen Einbruch schnell erholt. Oder ob sie etwas länger braucht, um wieder nach oben zu kommen, das wäre der mittlerweile berühmte U-Verlauf in einer Kurve mit einem längeren Tal der Tränen, aber immerhin mit einem ordentlichen Aufschwung danach. Oder ob es zum problematischsten aller Verläufe kommt – einem L, bei dem die Erholung ganz ausfällt oder auf niedrigem Niveau bleibt. Für die Autoindustrie sind aber noch andere Maßstäbe wichtig: Wie entwickeln sich die Märkte in Asien, wie in den USA? Erholen sich die Volkswirtschaften dort? Die Einschätzung von ausgewiesenen Autoexperten ist unterschiedlich, ein Absatzeinbruch zwischen 15 und 30 Prozent wahrscheinlich. Auch langfristig sind die Prognosen eher pessimistisch.
Ein immenser Arbeitsplatzverlust in der Größenordnung von 100.000 der rund 830.000 Arbeitsplätze bei Autobauern und Zulieferern ist zu erwarten, so der als »Autopapst« bekannte Experte Ferdinand Dudenhöffer, »unter optimistischen Annahmen«. Seine Prognose beruht auf den Erfahrungen der Finanzkrise 2008/2009, als die Autohersteller für den Aufholprozess zehn Jahre benötigten. Die Coronakrise ist weitaus schlimmer. Die Autoindustrie habe deshalb »ein gravierendes, längerfristiges Nachfrageproblem«. Verstärkt durch das grundsätzlich veränderte Kaufverhalten der Kunden, weil Autos immer weniger Statussymbol sind. Außerdem durch den zunehmenden Druck, klimafreundlich zu produzieren und klimaneutrale Autos zu bauen. All das vor allem bisher in Europa.
Angebots- und Nachfrageschock, dazu noch der immense gesellschaftliche Druck zum Umbau der Mobilität. Diese Themen sind jetzt weltweit auf der Tagesordnung, nur haben sie durch Corona eine andere Dimension.
Eine der großen Gefahren besteht darin, dass es zu einer neuerlichen Infektionswelle kommen kann und sich der Virus erneut ausbreitet. Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, wie die Entwicklungen in China, Südkorea und Singapur zeigen. Bei anderen Pandemien – selbst damals bei der Spanischen Grippe – gab es auch mehrere Wellen. In diesem Falle würden die Produktionen zumindest an manchen Stellen wieder gestoppt werden müssen. Bei einer weltweiten Just-in-time-Produktion ein großes Problem.
Die Verunsicherung bleibt groß
Aber auch ohne eine neue Infektionswelle bleibt die Verunsicherung bestehen. Viele Menschen mussten in der Krise auf Ersparnisse zurückgreifen oder staatliche Hilfe beanspruchen. Millionen Menschen fürchten um ihre Rente und private Alterssicherung. Wer denkt da in den kommenden Monaten daran, ein neues Auto zu kaufen? Auch Unternehmen oder Behörden werden sich überlegen müssen, ihre Fuhrparks und Dienstwagenflotte gegebenenfalls zu verkleinern oder Neuanschaffungen zu verschieben. All dies müssen die Konzernlenker in Stuttgart, München, Wolfsburg und anderswo auf der Welt bedenken.
Damit kommt eine Herausforderung auf die Hersteller zu, deren laufende Kosten immens sind. Die Werke geschlossen zu halten, schlug mit täglichen Aufwendungen in Millionenhöhe zu Buche. Denn die Maschinen mussten weiterhin gewartet und einige sicher auch noch abbezahlt werden. Und das ohne die Einnahmen aus dem Verkauf von Autos. Die füllten vor den Werken und bei den Händlern weltweit zu Millionen die Parkplätze. Ob diese Modelle noch zu verkaufen sein werden? Möglich. Nur, zu welchem Preis? Spätestens, wenn die Hersteller wieder voll produzieren, werden die Preise fallen, denn es kommt dann darauf an, Absatz zu machen. Das dürfte einen verschärften Preiskampf der internationalen Autobauer nach sich ziehen, der zu einem großen Problem für einige Hersteller werden könnte.
Unterdessen ist die Autobranche in Zeiten von Corona immer noch mit der Aufarbeitung der alten Krisen beschäftigt. Dazu gehören die Nachwirkungen der Finanzkrise, aber vor allem die selbst verschuldeten Versäumnisse der Vergangenheit, wie der Skandal um manipulierte Abgastests von Dieselfahrzeugen und das zunächst zu zaghafte Umschwenken auf alternative Antriebe wie den über Batterien oder Wasserstoff betriebenen Elektromotor.
Manche Hersteller sind zudem nicht besonders weit in der Digitalisierung ihrer Wagen und der Produktion. Hinzu kommen immer mehr von der Gesellschaft formulierte Forderungen nach einer Mobilität, die wenig mit Statusfahrzeugen zu tun hat, sondern eher mit Car-Sharing -Modellen und Autos, die zwar Emotionen ansprechen, aber keine Emissionen ausstoßen. Auch die Gesetzgeber machen Druck. In Zukunft gelten noch strengere Grenzwerte für den CO2-Ausstoß von Pkw und Lkw. Alle in der Europäischen Union neu zugelassenen Wagen sollen ab 2020 im Durchschnitt den CO2-Grenzwert von 95 Gramm pro Kilometer einhalten. Bis 2030 soll der Kohlendioxid-Ausstoß von Neuwagen um 37,5 Prozent im Vergleich zu 2021 sinken, für leichte Nutzfahrzeuge ist eine CO2-Reduktion von 31 Prozent vorgesehen. Wer als Produzent dagegen verstößt, sieht sich schnell mit milliardenschweren Strafen konfrontiert.
Muss der Green Deal der EU verschoben werden?
Jede der genannten Herausforderungen an sich ist bereits groß, zusammen ergeben sie eine Herkulesaufgabe, die schwer zu meistern ist. Viele in der Autoindustrie und auch in der Politik und Gesellschaft halten diese Aufgabe für nicht lösbar und fordern daher weitere Hilfen. Vor allem Kaufprämien analog zur 2009 gezahlten Umwelt- oder Abwrackprämie, und zwar sowohl für Verbrenner als auch für Plugin-Hybride und E-Autos über die bestehenden Öko-Prämien hinaus.
Die Vorsitzende des Verbandes der Autoindustrie (VDA), Hildegard Müller, hat bereits bei der EU-Kommission Laut gegeben und gefordert, die Ziele zum Erreichen des sogenannten Green Deal von EU-Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen zu strecken. Über das geplante Ziel von 2030 hinaus. Klimaschützer sehen darin einen Rückfall in alte Denkmuster der Autobranche, die sich einer dringend nötigen Modernisierung verweigert. Verbandschefin Müller aber erklärt in der Coronakrise nicht nur die nackte Not der Unternehmen, sondern eines ganzen Wirtschaftszweigs: »Wir müssen die wirtschaftlichen Auswirkungen erst seriös bewerten, bevor wir über mögliche zusätzliche Belastungen sprechen.«
Von der einstigen Perle der deutschen Industrie zum Sorgenkind – die Lage der Autohersteller ist ernst. Allerdings haben sie sich zum Teil auch selbst dorthin manövriert. Corona ist nicht allein schuld an der existenziellen Krise. Diese begann bereits mit der dramatischen Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Debatte über Klimaschutz und die Zukunft der Mobilität in Europa und auch in den USA. Zwar verkauften sich dort wie in Asien vor allem die großen, Hubraum- und PS-starken Fahrzeuge der gehobenen und Luxusklasse weiterhin gut, aber es begann ein Umdenken, selbst in Asien. Weniger, weil die Kunden über Nacht ihr Herz für alternative Antriebe entdeckt hätten oder Klimaschutz an oberste Stelle rückte. Die Gründe waren vor allem wirtschaftlicher und politischer Natur.
Warum Peking den Verbrennungsmotor verbietet
Wer jemals in Peking oder einer anderen chinesischen Metropole war, kennt die Gründe: Städte, die im Smog ersticken, und die Einwohner gleich mit. Zunehmend wird auch im Staatskapitalismus Chinas die Lebensqualität ein Thema. Nicht nur für die Menschen, auch für die Führung des Landes. Anteil am Aufschwung zu haben, wird nicht nur mit besserer monetärer Stellung in Verbindung gebracht, sondern auch mit besseren Lebensverhältnissen. Der mit allen Mitteln auf Machterhalt setzende Staat wird also auch Verbesserungen für die Bevölkerung durchsetzen. Da zudem in China viele Rohstoffe vorkommen, die die Autoindustrie für den Elektroantrieb benötigt, ist der Schritt nicht mehr weit, selbst groß ins internationale Autogeschäft mit alternativen Antrieben einzusteigen. Im eigenen Land verbietet das Reich der Mitte ab 2030 Autos mit Verbrennungsmotor. Das sind für viele Hersteller gerade noch zwei Modellzyklen. Wer den Markt in China nicht verlieren will, muss schleunigst umsteuern.
Die Führung in China entdeckt zunehmend die Rohstoffe für die Mobilität der Zukunft, um Druck auf Länder und ihre Unternehmen auszuüben. Peking veränderte die Handelspolitik mit Rohstoffen und verknappte deren Ausfuhr. 17 dieser Rohstoffe werden von der Europäischen Union als »kritisch«, also als eine sehr wichtige Ressource für die Wirtschaft, eingestuft. Die Rohstoffversorgung für die deutsche Industrie könnte beeinträchtigt werden. Zu diesen wichtigen Rohstoffen gehören Kobalt, ein bläulich-gräuliches Übergangsmetall, und Lithium, ein Alkalimetall. Beide werden benötigt für die Produktion von Batterien, etwa für die Elektromobilität. Doch jetzt wird der Markt enger. Laut einer Untersuchung der Deutschen Rohstoff-Agentur Dera, die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums Analysen zur Versorgungssicherheit erstellt, hat Chinas Kurswechsel zwei Gründe: zum einen, dass sich das Land höhere Umweltstandards zum Ziel setzt, zum anderen, dass sich das Wachstum in China deutlich abkühlt. Das Reich der Mitte arbeitet nun daran, seine Arbeitsproduktivität zu erhöhen, indem es höherklassige Güter herstellt, die dank Automatisierung bei gleichem Input mehr Umsatz bringeni
Daher hat die chinesische Führung nun eine veränderte Rohstoffpolitik im Blick. Bei mineralischen Ressourcen wie Seltenen Erden, Magnesium oder Wolfram wächst der Eigenbedarf. Die Versorgung mit Rohstoffen, von denen das Land selbst viel importieren muss, soll laut Dera zudem durch weitere Auslandsinvestitionen abgesichert werden. China ist vor allem in Afrika aktiv und konkurriert dort mit anderen Staaten. Für den Zeitraum von 2016 bis 2020 dürfte Chinas Nachfrage nach Hightech-Metallen wie Kobalt oder Lithium um über 10 Prozent zugelegt haben, schätzt die Rohstoff-Agentur Dera. Andererseits müssen viele Länder weiterhin chinesische Rohstoffe beziehen. Bei Magnesium, das etwa im Leichtbau der Auto- oder Computerindustrie eingesetzt wird, hat die Rohstoffmacht China einen Produktionsanteil von über 80 Prozent – auch deshalb war die künstliche Verknappung bei einigen Metallen dringend notwendig.
Chinas zweigleisige Strategie
Chinas neue Strategie könne dazu führen, dass »kritische Rohstoffe verstärkt für die eigene industrielle Fertigung eingesetzt werden, um höherwertige Produkte herstellen zu können«, analysiert die Rohstoffagentur. Mögliche Folge wäre »eine Beeinträchtigung der Rohstoffversorgung für die deutschen Industrien und ein intensiverer Wettbewerb in der Herstellung von höherwertigen Materialien und Industriegütern«.
Insgesamt stuft die Europäische Union sogar 27 Rohstoffe als »kritisch« für die eigene Wirtschaft ein. Dass davon 17 aus China eingeführt werden, zeigt die Bedeutung der Volksrepublik für den europäischen Kontinent, der mit anderen Ländern um die Importe konkurriert. Eine zu hohe Lieferabhängigkeit »birgt die Gefahr von Versorgungsengpässen, wenn unvorhersehbare Ereignisse oder Konfliktsituationen auftreten«, so Dera. Industriepolitische Maßnahmen oder Krisen wie die aktuelle Covid-19-Pandemie gehören zweifellos zu derartigen Ereignissen.
China fährt zweigleisig. Neben dem Verknappen von Rohstoffexporten setzt es vermehrt auf die Etablierung von Umweltstandards. Das Land plant allein für die kommenden drei Jahre Investitionen von rund 300 Milliarden Euro in grüne Energien. Und je mehr davon erzeugt werden kann, umso größer wird der Vorteil von Elektromobilen. Das von Kritikern oft gebrauchte Argument, die Emissionen würden bei einem E-Mobil vom Auspuff nur in das Kraftwerk verschoben, verliert dann an Stärke.
Im Bereich der Elektroautomobile wird sich dadurch der Wandel noch schneller vollziehen und der Markt, auch politisch, gelenkt. Analysten der Schweizer Bank UBS rechnen damit, dass schon im kommenden Jahr die »Total Cost of Ownership«, also die gesamten Kosten für Anschaffung und Betrieb eines Elektroautos, auf dem gleichen Niveau liegen werden wie für ein Auto mit traditionellem Antrieb. In fünf Jahren, meinen die Schweizer, wird der Absatz nach oben geschnellt sein auf 14 Millionen Fahrzeuge weltweit. Immer noch ein geringer Anteil, wenn man die Gesamtzahlen dagegenhält, aber ein nachhaltiger Trend mit Wirkung. Nicht nur im Sinne des Klimaschutzes, sondern auch politisch nachhaltig. Länder wie Schweden und Norwegen fördern diesen Trend durch eine höhere Besteuerung von herkömmlich angetriebenen Fahrzeugen schon länger. Wenn nun auch China und Indien, wie angekündigt, solche politischen Entscheidungen im angedachten Zeitraum von zehn Jahren umsetzen, dann muss der von der deutschen Autoindustrie sehr späte, aber nun umso vehementer vorangetriebene Umstieg auf die E-Mobilität und andere alternative Antriebe erfolgreich werden. Um nahezu jeden Preis, denn sonst droht der Vorzeigebranche, die jahrelang Prestige und Wohlstand brachte, eine existenzielle Krise.
Um das zu verhindern, müssen die Hersteller so innovativ sein, wie sie es schon oft bewiesen haben. Sie dürfen keine weitere Zeit mehr verlieren wie in Debatten der Vergangenheit, etwa beim Dieselskandal. Der Staat muss mit Infrastrukturmaßnahmen wie zum Beispiel flächendeckenden Ladestationen an den Autobahnen dafür sorgen, dass Deutschland ein Land der Zukunftsmobilität wird. Europa braucht eine politische Antwort auf die politischen Offensiven aus Asien und die Technologieriesen aus den USA, deren Softwareentwickler in die Autodomäne vordringen. Und auf Autos setzen, die wie ein Auto aussehen, aber in Wahrheit ein Werkzeug sind für die Mobilität von morgen – schon heute. Die Zukunft ist ungewiss für eine unserer wichtigsten Branchen in Deutschland und Europa. Die Chancen sind da, aber die Zeitfenster schließen sich.
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Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem Buch von Markus Gürne und Bettina Seidl: "Der Wirtschaftsvirus. Wie Corona die Welt verändert und was das für Sie bedeutet" (Econ Verlag, 352 Seiten, 20 Euro, ), das am 29. Juni erscheint