Was wir von Tocqueville in der Staatskrise lernen können
Artikel vom
In der Corona-Krise wird unser Staatswesen auf eine harte Probe gestellt. In Rekordzeit wurden dabei Grundrechte beschnitten und ein de facto Ausnahmezustand erzeugt, der das öffentliche Leben an den Rand des Stillstands bringt. Doch wie weit darf dies gehen? Wie weit muss sich das Individuum dem Gemeinwesen unterordnen? Und welche Aufgaben sollte der Staat übernehmen?

Das Corona-Virus sorgt in Deutschland für einen Ausnahmezustand. Von Geschäftsschließungen, über Kontaktverboten zu Ausgangssperren wurde unser alltägliches Leben in wenigen Tagen grundlegend verändert. Scheinbar ohne Widerspruch dulden die Bürger die Abschaffung der Grundrechte, für die sie über Jahrhunderte hinweg kämpfen mussten. Im Zuge der Krise wurden die Bewegungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt. Darüber hinaus traf es auch eins der höchsten Freiheiten unseres Staates - die Glaubensfreiheit.
Für einen möglichen Schutz des Kollektivs wurden individuelle Interessen zurückgestuft und dem Bürger die Entscheidungsgewalt entzogen - der Staat entscheidet in der aktuellen Krise für und über die Bürger. Das Staatswesen tritt dabei als Vertretung der Öffentlichkeit auf – es diktiert die Meinung und stuft Interessen ein. Aus einem legitimen Aufruf zu wirkungsvollen Maßnahmen, die entschlossen umgesetzt werden sollten, entwickelte sich der Wunsch nach einer deutlich sichtbareren Autorität.
Alexis de Tocqueville und das Problem der Demokratie
Schon Alexis de Tocqueville befasste sich vor 200 Jahren mit diesem Problem der Demokratie - der Ausgleich zwischen individuellen Interessen und den Interessen des Gemeinwesens. Darf der Staat in der heutigen Krise entscheiden, dass die Sorgen einzelner, wichtiger sind als die Probleme der anderen? Wer sagt, dass die aktuellen Maßnahmen vor mehr Schaden schützen als sie anrichten? Und sollte der Staat nicht jede Entscheidung rechtfertigen, auch wenn diese im Ausnahmezustand getroffen wird?
Für die gefühlte Mehrheit der Bevölkerung scheint aktuell „Sicherheit“ die oberste Maxime zu sein. Der Staat wird als Macht gesehen, der die Ordnung übernehmen sollte, der jedem Einzelnen vorschreiben sollte, wie er zu agieren hat. Doch viele begehen dabei einem grundsätzlichen Denkfehler - eine Demokratie kann niemals nur von staatlichen Behörden ausgehen, sondern die individuelle Verantwortung des Einzelnen ist elementar für unser Staatswesen.
Diese Krise stellt die liberale Demokatrie vor eine enorme Probe
Unser modernes und liberales Staatswesen ist stark von der antiken Idee der „Agora“ geprägt - dem zentralen Ort, an dem Diskussionen stattfinden und ein Konsens gefunden wird. Das Abwägen von Zielkonflikten ist dabei ein entscheidendes Mittel, welches unser Staatswesen auszeichnet, damit Lösungen gefunden werden, die nicht nur für die Mehrheit, sonder auch für die Minderheit akzeptierbar sind. In der aktuellen Krise unserer Gesellschaft kommt dies jedoch zu kurz. Die Entscheidungen werden nicht abgewogen, sondern im Sinne der „gefühlten“ Mehrheit getroffen.
So scheint es, dass die Gesellschaft keinerlei Diskussion über die Folgen der aktuellen Krisenpolitik mehr zulässt. Weitergehend ist insbesondere verwunderlich, wie sich die Menschen aus der Öffentlichkeit zurückziehen und die weiteren Schritte nur noch abwarten. Diese isolierenden und desintegrierenden Tendenzen bilden dabei auch für Tocqueville eine große Gefahr. Der Bürger leugnet somit den Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft, was sich insbesondere an der vehementen Forderung nach Ausgangssperren, die im optimalen Fall mit hohen Geldstrafen durchgesetzt werden sollen, zeigt. Anstatt abzuwägen und dem Individuum mehr Vertrauen zu schenken, wird einzig auf den Staat als ordnungspolitische Macht gesetzt.
Im Zuge der Krise scheint der Bevölkerung somit kein Grundrecht mehr heilig zu sein - alleine um das übergeordnete Ziel zu erreichen, wird dem Staat das gesamte Vertrauen geschenkt. Dass eine Gesellschaft ohne das Individuum nicht bestehen kann, wird dabei außer Acht gelassen. Tocqueville bezeichnet dies als „die Unfähigkeit die eigene Verantwortung in die Hand zu nehmen“. Je unmündiger und schwächer das Individuum sei, umso größer sei die Gefahr für die Demokratie, denn die Menschen seien abhängig von einer zentralen Staatsgewalt.
Zwar zeichnet Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ ein sehr positives Bild der Demokratie, jedoch sah er auch die weitreichenden Gefahren, die von der Demokratie ausgehen. Diese zeigen sich nun auch in der heutigen Krise. Denn das Begehren der Bürger nach einem Beschützer, entwöhnt jeden allmählich der freien Selbstbestimmung- für Tocqueville beginnt an dieser Stelle die Tyrannei.
Wie lassen sich Freiheit und Gemeinschaft vereinigen?
Die Frage, wie sich Freiheit und Gemeinschaft in Einklang bringen lassen, ist auch die Frage, die wir uns heute stellen müssen. Ergibt es Sinn, dass der Einzelne seine Rechte, aber auch seine Verantwortung aufgibt und sich schlicht den Notstandsgesetzen des Staates unterwirft? Oder sollte unsere Gesellschaft nicht weiter sein? Sollte es für uns nicht möglich sein, dass der Einzelne seine Lebensführung selbst gestaltet und sich selbst seinen Pflichten bewusst wird? Denn es ist die wichtigste Aufgabe unseres Grundgesetzes, die Macht des Staates im Interesse der Freiheit des Einzelnen zu beschränken.
Auch für Tocqueville war das Ziel aber keine egoistische, sondern vielmehr eine mündige Gesellschaft. Er bezeichnete dies als „die Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz“, bei dem sich der mündige Bürger eben selbst die Interdependenz zwischen partikularen Interessen und den Belangen des Ganzen verdeutlicht. Eine solche Mündigkeit - bei der der Bürger selbstbestimmt auftritt und am Ende moralisch agiert - wäre heute dringender nötig denn je. Denn keine Krise rechtfertigt den Abbau von Grundrechten.
Somit helfen uns die Analysen Tocquevilles zu verstehen, dass wir auch in der Krise nicht kopflos einer zentralen Staatsgewalt vertrauen sollten. Für ihn war die Krise auch ein Moment, bei dem sich das wahre Ich der Gesellschaft zeigt: „Der Mensch bleibt in kritischen Situationen selten auf seinem gewohnten Niveau. Er hebt sich darüber oder sinkt darunter.“ Unsere Aufgabe muss es nun sein, das Individuum über den Staat zu stellen und auch im Ausnahmezustand nicht den Raum der Öffentlichkeit aufzugeben.
Schlussendlich könnte uns aber auch Tocqueville nicht sagen, wie wir korrekt auf die aktuelle Krise reagieren sollten, aber er würde uns davor warnen, schlicht auf den Staat zu vertrauen, denn die größte Gefahr für die Demokratie, ist der Rückzug des Individuums aus der Öffentlichkeit - ohne Freiheit und Verantwortung ist unsere Demokratie am Ende.