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Gesellschaft & Kultur > Die Bedeutung der Christentums für die Demokratie

Wird Deutschland in der Krise wieder christlich?

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In Deutschland ist das Christentum irrelevant geworden. Dabei war es entscheidend für den Weg zu Aufklärung und Demokratie. Jetzt, in Zeiten von Corona, ist eine Renaissance des Glaubens möglich.

Wenn sich für Deutschland (und viele weitere europäische Gesellschaften) eine frühe Erkenntnis aus der Corona-Krise ziehen lässt, dann ist es die augenblickliche Verständigung auf eine Irrelevanz des christlichen Glaubens. Dass Gotteshäuser geschlossen wurden, aber Baumärkte durchgängig geöffnet blieben, dass für die Wiedereröffnung von Einzelhandelsgeschäften intensiver gestritten wird als über die Rückkehr zu Gottesdienstmöglichkeiten, belegt einen Wertewandel, der sich seit langem ankündigte. Selbst in diesen Ostertagen ist der Verstörungsgrad der Christen über diese Beschneidung von Religionsfreiheit ausgesprochen gering. Gleichwohl könnte das Pendel, und das ist die Ironie der Geschichte, durch eben diese Corona-Krise auch wieder in die andere Richtung schwenken. Wir kommen darauf zurück.

Gründe für die nahezu totale Säkularisierung

Die Ursache der nahezu totalen Säkularisierung Deutschlands ist für den Osten rasch erzählt. Dort wurde die Religion durch die unerbittliche Knute des rein materialistischen Kommunismus eliminiert. Der Niedergang der Kirchen im Westen hingegen erschöpft sich keineswegs durch einen Verweis auf die 68er-Revolution.  Denn den "Muff von 1000 Jahren", den die Studenten unter alten Talaren austreiben wollte, hatte selbst die konservativere der beiden relevanten Kirchen in Deutschland, die katholische Kirche, bereits von 1962 bis 1965 in der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils abgeschafft. Da aber befand sich die Kirche bereits in der Defensive. Ein Indiz für die wachsende Distanz des westdeutschen Bürgertums zum Vatikan war die intensive Rezeption des 1963 uraufgeführten Theaterstücks "Der Stellvertreter", in dem der Dramaturg Rolf Hochhuth mit Furor und längst nicht immer dem heutigen Forschungsstand entsprechend Papst Pius XII. eine Art stillschweigende Akzeptanz des Holocaust unterstellte.

Wie christdemokratische Politik den Glauben fraß

Der Widerspruch der Entwicklung in der Bundesrepublik liegt darin, dass die Säkularisierung stattfand, obwohl in den bislang 71 Jahren ihrer Existenz 51 Jahre lang das Kanzleramt in christdemokratischer Hand war. Von dort wurde, im Bündnis mit Christdemokraten in den Nachbarländern (man denke an Adenauer, Schuman und de Gasperi) der Weg nach Europa geebnet. Christdemokraten schufen zudem aus der Idee der christlichen Soziallehre die Grundlagen der Sozialgesetzgebung, in Frankreich und Italien ebenso wie in Deutschland. Der Erfolg dieses Staatsmodells mag aber ursächlich gewesen sein für die Säkularisierung. Denn vor allem wurde das Christentum durch einen Wohlstand verdrängt, der jene außerreligiöse Bedürfnisse stillte, die weniger saturierte Gesellschaften von Religionen erhoffen. Wenn es Menschen im Diesseitigen gut geht, schwindet die Sehnsucht nach der Verheißung im Jenseitigen. Christlich inspirierte Politik fraß die christliche Religion, wenn man so will.

Unterscheidung zwischen göttlichen und irdischen Gesetzen

Wer die Krise des Glaubens für belanglos hält oder im Sinne eines vermeintlichen Fortschritts gar begrüßt, hat nicht begriffen, welche Bedeutung das Christentum für die Etablierung der Menschenrechte und des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates hat. Der Glaube war, trotz seines anfänglich zähen Widerstands, der Schrittmacher der Vernunft. "Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz", schreibt Heinrich August Winkler in "Werte und Mächte", seiner monumentalen Geschichte der westlichen Welt, "hätte sich kaum durchgesetzt, wäre dem nicht der Glaube vorausgegangen, dass es nur einen Gott gibt, vor dem alle Menschen gleich sind". Die christliche Unterscheidung von göttlichen und irdischen Gesetzen, zu der es keine Entsprechung im ebenfalls monotheistischen Islam gibt, "ermöglichte letztlich die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen", so der Historiker weiter. Das keineswegs durchgängig "finstere" Mittelalter habe aufgrund der christlichen Grundierung "auch die Keime seiner Überwindung durch Humanismus und Renaissance, Reformation und Aufklärung in sich" getragen.

Ohne das Neue Testament wäre die Entwicklung des Westens anders verlaufen. Unser System, das sich eben nur nachträglich auf die attische Demokratie berufen kann, aber nicht tatsächlich von dieser kurzen Periode der griechischen Geschichte stammt, sähe vielleicht östlicher, autoritärer aus, weniger den unveräußerlichen Rechten des Individuums gewidmet als der Verehrung des Kollektivs.

Kommt jetzt die Renaissance des Glaubens?

Ob den Menschen das Christentum fehlen wird, falls die Corona-Krise länger anhält, lässt sich nicht sagen. Das Ende der Pandemie sollten wir uns eher wünschen als die Renaissance des Glaubens. Dessen Wiedergeburt bleibt ungewiss. Aber schon jetzt beginnt der Mensch eine neue Demut zu spüren. Es ist nicht alles machbar und alles planbar. Jene Herausforderungen, die vor zwei Monaten noch im Vordergrund zu stehen schienen, allen voran die Klimaerwärmung, wurden binnen weniger Tage in den Hintergrund gerückt. Plötzlich drohen Gefahren, die bislang nur in der Theorie oder in Science-Fiction-Filmen vorzukommen schienen.

Aber der Mensch ist stark, und die Menschheit noch stärker, wenn neben der Bedrohung auch Hoffnung aus einer Sphäre kommt, die sich der Planbarkeit entzieht. Das ist, vielleicht, die frohe Osterbotschaft in den dunklen Zeiten von Corona.

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