Über die Lust an der eigenen Tomate – vor und während der Corona-Krise
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Gärtnern, Imkern, eigene Hühner - schon seit Jahren haben die Deutschen den „Farming“- Trend für sich entdeckt. Die Corona-Krise hat die Bewegung deutlich beflügelt und ihr eine neue Richtung gegeben.

Vor rund zehn Jahren zog ich mit meinem Mann und unseren drei kleinen Kindern aufs Land. Wir wollten sie in der Natur groß werden lassen, sie rennen, klettern, matschen lassen. Und so schufen wir jenseits der Großstadt, direkt an einem dunkelgrünen Fichtenwald unsere kleine Farm. Wir begannen mit Rapunzelsalat, im Laufe der Jahre kamen Gurken, Zucchini, Kräuter und Möhren hinzu. Wir setzten Obstbäume, Beerenbüsche, holten Hühner und Hasen, bauten Holzunterstände, Geräteschuppen und Gehege, ein Gewächshaus für Tomaten und ein Hochbeet für Zwiebeln und Knoblauch.
Zunächst als weltfremd belächelt, stießen wir im Laufe der Jahre auf immer größere Akzeptanz. Immer mehr Bekannte wollten mit mir über die besten Bodenbedingungen für Saatkartoffeln diskutieren und interessierten sich dafür, ob Hennen zum Eierlegen einen Hahn bräuchten. Die Lust aufs Land war nicht nur in meinem Bekanntenkreis erwacht, sondern auch in weiten Teilen der Bevölkerung. Ökologische Themen gewannen immer mehr an Bedeutung, die Deutschen verschlangen Bücher von lodengrün gekleideten Waldexperten, diskutierten über die Rückkehr der Wölfe, der eigene Garten war plötzlich en vogue, die Idee der Selbstversorgung vorstellbar.
Die Landlust-Allianz setzt sich aus unterschiedlichsten Gruppen zusammen, aus Naturromantikern und Umweltschützern, aus Friday-for-Future-Kids, ebenso wie aus Vertretern illustrer Kreise. Hollywood Stars wie Barbara Streisand oder Julia Roberts schmücken ihre Villengrundstücke seit Jahren mit freilaufenden Hühnern und laut einem im Februar 2020 ausgestrahlten Bericht der Tagesschau gehören eigene Hühner auch im kalifornischen Silicon Valley längst zum guten Ton. Auch deutsche Prominente reiten die Öko-Welle; erst kürzlich schwärmte Judith Rakers in einer NDR Talkshow von ihren Hühnern und der Lust am eigens gezogenen Salat.
Wer nun meint, die aufwühlenden Nachrichten im Zuge der Corona-Krise hätten dazu geführt, dass das Thema „Gemüsebeet“ in den Hintergrund gerät, der täuscht sich. Das Gegenteil ist der Fall. Die angespannte Lage hat auf die Bewegung wie ein Katalysator gewirkt. „Seit dem Ausbruch der Corona-Krise wollen sich viele Menschen selbst versorgen und ihr eigenes Gemüse anbauen“, so die Quintessenz des Beitrags „Raus auf den Acker“, der am 15. Mai auf süddeutsche.de erschien. Anbieter kleiner Parzellen auf Feldern oder in Kraut- und Gemüsegärten würden von der aktuellen Nachfrage regelrecht überrannt werden. Gleichzeitig berichten Baumschulen und Gartencenter über eine aktuell große Nachfrage nach Obstbäumen und Gemüsesetzlingen.
Sucht man nach Gründen für die aufgeflammte Lust an der eigenen Tomate, lohnt sich ein Blick auf den Beginn der Corona-Krise. Für einige Wochen schienen die Lieferketten und das Nahrungsangebot auf wackligen Beinen zu stehen und manch einer mag die Versorgungskompetenz des Staates ernsthaft in Frage gestellt haben. Auch wenn die Supermarktregale bis auf wenige Ausnahmen voll blieben – ein Nahrungsmangel war plötzlich denkbar geworden. Die Sorge zeigte sich vor allem in einem maßlosen Anhäufen von Fertigsuppen, Konserven, Mehl und Hefe.
Viele mögen im Zuge der aktuellen Berichterstattung auch zum ersten Mal erfahren haben, dass Deutschlands Landwirte von rund 300.000 Erntehelfern aus Osteuropa abhängig sind. Die Versorgung der Bevölkerung mit Produkten aus der heimischen Landwirtschaft sei ohne ausländische Saisonarbeiter nicht möglich, so statiert der BOGK Verband auf seiner Homepage. Angesichts solcher Nachrichten drängt sich schon die Frage auf, wie selbstverständlich der immerwährende Nahrungsstrom in unserem Land eigentlich ist und ob es nicht eine gute Idee wäre, die Lebensmittelproduktion in die eigenen Hände zu nehmen.
Ein weiterer Grund für die aufgeblühte Gartenlust mag in dem tiefsitzenden Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Auswüchsen der Globalisierung liegen. Die letzten Wochen haben deutlich gezeigt, dass die Globalisierung für niemanden mehr nachvollziehbare politische und ökonomische Abhängigkeiten geschaffen hat. Entgeistert hing eine Nation besorgten Medizinern an den Lippen, die von dringend benötigten Beatmungsschläuchen und Masken sprachen; in Asien produziert - für uns nicht verfügbar. Soziologen sprechen schon seit Jahren von dem Phänomen, dass die empfundene Ohnmacht gegenüber globalen Dynamiken zu einem Rückzug in die eigenen vier Wände führe, zu Homing und Cocooning. Das durch Corona verursachte verstärkte Abwenden von einem zu komplexen, problembehafteten Außen hin zum Privaten, Überschaubaren mag den Huhn- und Gartentrend weiter beflügeln.
Die verstärkte Hinwendung zum Privaten wurde natürlich auch durch die staatlich angeordnete Isolation forciert. Die Corona-Krise hat vielen Bürgern erstmal Zeit geschenkt. Zeit, sich mit medial gespielten Themen wie der Globalisierung auseinanderzusetzen, Zeit, um Neues auszuprobieren, Zeit, um ein Hochbeet zu bauen, Zeit, um das Gärtnern kennenzulernen.
Die Landlustbewegung nahm in den letzten Wochen nicht nur deutlich an Fahrt auf, sondern schlug auch eine andere Richtung ein. Während der bisherige Trend viel mit der in Mode gekommenen Holzfälleroptik zu tun hatte, trägt die aktuelle Selbstversorger-Welle eine neue, eine ernstere Handschrift. Vielen mag es diesmal um die tatsächliche Produktion von Nahrungsmitteln gehen - aus Koketterie ist an mancher Stelle echte Wertschätzung entstanden. Und es ist genau dieser Aspekt, der auf eine harte Probe gestellt werden wird. Denn das Basilikum wird von den Schnecken vertilgt, die Nüsse von den Eichhörnchen, die Kartoffeln von den Wühlmäusen. Das Apfelbäumchen bekommt Läuse, die Zucchini, Mehltau, manches gedeiht einfach gar nicht. Koriander ist auch so ein Kraut, das einfach nicht vernünftig wachsen will, dafür aber Armeen an Schnecken anlockt. Und selbst wenn man einen grünen Daumen hat, übersteigt die eigene Ernte selten ein paar Beiträge zum Salatbuffet. Der amerikanische Mini-Farming-Guru Brett L. Markham spricht von tausend Quadratmetern, die man intensiv bewirtschaften müsste, um eine fünfköpfige Familie das ganze Jahr über satt zu bekommen. Ein Fulltime-Job aus Unkraut jäten,
säen, gießen, kompostieren, einmachen, Hühner halten, schlachten, schuften.
Die Idee, sich mit den Erträgen der eigenen Landwirtschaft versorgen zu können, ist nur selten umzusetzen, das Farming beschert trotzdem glückliche Momente. Zum Beispiel, wenn man seine Kartoffeln aus sommerwarmer Erde buddelt oder wenn sich der Herbstnebel auf die Beete legt und man sich vornimmt, im nächsten Pflanzjahr alles viel besser zu machen – das ist auch so ein Moment.