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Gesellschaft & Kultur > Der Widerstand der Medienelite gegen die Technokratie ist zur tatsachenfremden Lager-Ideologie verkommen

Wo bleibt der Mut zur Nonkonformität?

Unsere Demokratie glaubt nicht an die persönliche Urteilskraft des citoyen, sondern vertraut der kollektiven Selbstinszenierung. Der Widerstand der Medienelite gegen die Technokratie ist zur tatsachenfremden Lager-Ideologie verkommen. Wo bleibt der Mut zur Nonkonformität?

A single red umbrella surrounded by black umbrellas, Shutterstock
A single red umbrella surrounded by black umbrellas, Shutterstock

Der Ruf nach digitaler Mündigkeit ist in einer Welt der Content-Flut und Desinformationskampagnen aktuell wie nie zuvor. Unsere Kultur der Simulation bietet uns enorme Möglichkeiten, unseren Horizont im virtuellen Spiel der Identitäten zu erweitern. Gleichzeitig birgt sie die Gefahr, den Wert der Individualität an mächtige Medienmanipulatoren und Integrity Initiatives zu verlieren, die uns on demand mit vorgefertigten Wahrheiten beliefern. Der Begriff der Mündigkeit darf aber nicht auf das Beherrschen digitaler Kompetenzen reduziert werden, wie es in dem englischen Begriff „digital literacy“ anklingt. Im globalen Dorf, das sich durch intransparent gesteuerte Vernetzung von Informationsfragmenten und Manipulation von Erfahrungen auszeichnet, ist Resilienz, Selbstkritik und das Verständnis interkultureller Übersetzungsprobleme unabdingbar.

Autonomie und selbstverantwortliches Handeln sind die Kernanforderungen unserer leistungsorientierten Gesellschaft, die Kinder schon in vorschulischer Bildung vermittelt bekommen. Sei deines Glückes Schmied statt Schuster bleib bei deinen Leisten. Eigenverantwortliches, kritisches Denken statt dumpfer Autoritätenhörigkeit wollten die 68er – ihre systemkritischen Forderungen brachten sie durch Studentenrevolten auf die Straße. Theodor W. Adornos Forderung nach einer Erziehung zum Widerspruch, besonders was das „Nie wieder“ der nationalsozialistischen Herrschaft betrifft, wurde seit den umfassenden gesellschaftlichen Reformen der 1970er Jahren erfolgreich durchgesetzt.

Der Mainstream zeigt sich heute in einer breiten Medienfront gegen diverse rechtspopulistische Strömungen, die Werte wie Toleranz und Multikulturalismus durch rigorose Law-and-Order-Vorstellungen und eine Anti-Establishment-Politik ersetzen wollen. Dabei nutzen die Rechtspopulisten geschickt demagogische Rhetoriken: mit Skandalisierung und Emotionalisierung lenken sie von Sachthemen ab und lassen ihr Publikum im Unsicheren über ihre eigentlichen Intentionen. Bleibt die Medienelite von deren Impetus und Anspruch, die Anwälte des Volkes zu sein, unberührt?

Eine Bestandaufnahme: Mündigkeit als nonkonformer Widerstand

Wie sieht es heute mit dem Nonkonformismus aus, der Trutz gegenüber der Vereinnahmung von Kollektiven verlangt? Im Widerstand liegt die Kraft, aber wie schwer Widerstand ist, wenn man allein gegen alle steht und keine Garantie auf Erfolg hat, kann einem keiner beibringen. Studien zeigen, dass Jugendliche immer weniger dazu tendieren, die Werte und Orientierungen der Erwachsenenwelt in Frage zu stellen. Anpassungsbereitschaft in einer Welt, in der sich die Herausforderungen immer schneller wandeln, ist erstmal nichts Schlechtes. Eine brave, angepasste Gesellschaft aber ist per se risikoarm und auf Bequemlichkeit ausgerichtet. Sie schätzt das Besondere nur noch im privaten Rahmen, während sie sich im öffentlichen Raum an einer vorherrschenden Normalität ausrichtet. Dies hat Folgen für die demokratische Vertiefung und die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsentwicklung in einer globalisierten Welt, die sich durch Re-Tribalisierung und innovationsgetriebene Technologiegläubigkeit auszeichnet.

Seid politisch, verteidigt die Demokratie, wehret den Anfängen der Barbarei, wurde uns damals beigebracht – einer Generation, die in Frieden und Wohlstand aufwuchs und echte Not nur aus Film und Fernsehen kannte. All dies waren bestenfalls Schlagwörter, Losungen, untermalt mit historischen Fakten und Aufklärungsfilmen über das Grauen von Auschwitz, betrachtet aus der sicheren Distanz der heilenden Zeit. Ahnungslose Kinder, konditioniert auf die eine Mission den Faschismus zu verhindern.

Wie sollten wir diese Lehren auf unser Leben anwenden? Statt uns der Geschichte näher zu bringen, entfernten die politisierten Phrasen uns weiter von ihr. Sie reduzierten in ihrer monotonen Wiederholung des Leitmotivs die asynchrone Komplexität des Gedächtnisses auf eine sentimentalische Kopie. Das Privileg der Nachgeborenen und das Dilemma der unmöglichen Objektivierbarkeit von Erinnerung und Ohnmacht ist die ewige Tragik, die die Generationen von jeher voneinander trennt.

Aufklärung ohne Selbstkritik ist keine Aufklärung

Wie kann man Neues zulassen und dabei Erinnerung bewahren, ohne dass sie zur übermächtigen Lähmung wird? Immanuel Kant sah das entscheidende Moment der Mündigkeit in seinem Essay „Was ist Aufklärung?“ nicht in der einmaligen intellektuellen Befähigung des Individuums, sondern im immer wieder aufzubringenden Mut, sich seines Verstandes „ohne Leitung eines andern zu bedienen“. Der Gelehrte hat geradezu die Pflicht, zur Welt in seiner „uneingeschränkten Freiheit“ und „in seiner eigenen Person zu sprechen“. Wie kann dies geschehen außer durch die ständig neue Durchdringung mit gelebter Erfahrung? Er muss also seine ihm anerzogene soziale Rolle hinter sich lassen und sein Wissen ins Subjektive wenden, will er Erkenntnisgewinn erreichen. Geschichte ist niemals statisch, sie verändert sich mit jeder Generation. Sie legt ihr schön gewebtes Gewand ab zeigt sich in neuer Nacktheit, dies geschieht immer unter Schmerzen.

Deutschland, das ewig rückständige Land mit dem eigenwilligen Sonderweg, das sich nur widerwillig in die westliche Zivilisation gefügt hat. Haben diese Chimären Thomas Manns noch Bestand? Wenn man sich die rückwärts gewandte Unentschlossenheit in Teilen von Wirtschaft und Politik angesichts der industriellen Revolution 4.0 anschaut, scheint diese alte Schwäche noch lebendig zu sein. Fakt ist, dass Begriffe wie „Faschismus“, „Nazi“ und „Terror“ heute politische Kampfbegriffe sind, die inflationär und sinnentleert von beiden Seiten des politischen Spektrums verwendet werden, um den Anspruch auf Deutungshoheit zu festigen. Dies hat nichts mit Aufklärung und Mündigkeit zu tun, sondern mit Machtspielen, die mit Manipulation und Unterwerfung arbeiten. Mündigkeit wird falsch verstanden als Ziel einer überlegenen Elite, die die noch nicht Mündigen messianisch bekehren wollen. Sobald es ans Eingemachte geht, werden die Vorkämpfer der offenen Gesellschaft ganz schnell zu Moralaposteln: Aufzeigen von systemimmanenten Fallstricken sind unerwünscht, stellen sie doch die eigene Fähigkeit zur kritischen Distanzierung in Frage.

Statt die persönliche Urteilskraft des citoyen zu stärken, wird das Individuum – natürlich mit besten Absichten - zum Objekt gesellschaftlicher Steuerungsmaßnahmen degradiert. Das Mantra der „Alternativlosigkeit“, das von der Politik und den Medien zu wechselnden Zielsetzungen wiederholt wird, ist dabei nichts anderes als die technokratische Unterdrückung eines gesellschaftlichen Streitdiskurses über konkurrierende Gesellschaftsmodelle der Gegenwart. Allerorts wird die Gefahr der sozialen Spaltung durch eine polarisierte Gesellschaft ausgerufen, die es zu bekämpfen gilt. Dabei ist die Unterwanderung westlicher Logik durch osteuropäische Transformationsprozesse eine einmalige Chance zur Belebung einer kritischen Debattenkultur im Austausch unterschiedlicher Weltsichten. Denn die liquide Kommunikation in der Basar-Community des Internets unterbricht die Monologizität der herrschenden Leitkultur durch Subkulturen und erzeugt konstruktive Störungen.

Wenn aber ein vorherrschendes Narrativ nicht in der Lage ist, abweichende Meinungen zuzulassen, dann hat es den Prozesscharakter der Aufklärung in eine statische Konstante verwandelt. Wenn Verstehen - „Russland-Versteher“ - im öffentlichen Diskurs herabgewürdigt und stattdessen die Aufrechterhaltung blinder Flecken - das Ausblenden von Migrations- und Integrationsproblematiken in Deutschland - vorangetrieben wird, dann steht es schlecht um kompetente und besonnene Meinungsbildung.

Um einen Vergleich aus der Wirtschaft zu bemühen: das Unternehmen zielt nicht mehr auf die Integration von neuen Impulsen und lebenslanges Lernen ab, sondern verfestigt aus der Vergangenheit etablierte Muster zu starren Strukturen, die Veränderung durch die Allmacht eines wuchernden Bürokratieapparats systematisch ausschließen. Im Beanspruchen einer universalistischen Moral erliegen die heutigen Verhältnisse – inklusive der Klimabewegung – kollektiven Machtphantasien und damit den totalen Wahrheitsansprüchen des Positivismus, dessen Herrschaftsimperative Adorno ausdrücklich kritisiert hat.

Die Internationale ist ohne das Nationale nicht zu haben

Klammert der westliche linksgerichtete Mainstream das Nationale aus, wie Martin Walser behauptet? Im Bezug auf die Erziehung zur Mündigkeit ist dies insoweit folgerichtig, als dass das Nationale im 20. Jahrhundert in der Befähigung zur kritischen Subjektivität kläglich gescheitert ist. Gleichzeitig erlebt der Nationalismus gerade nicht nur in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch in weiten Teilen des Westens einen Aufschwung. Was stimmt nicht mit dem klassischen Storytelling, wenn sich so viele Menschen davon nicht mitgenommen fühlen, dass sie auf traditionelle Vorstellungen zurückgreifen, die ein verklärtes Idealbild einer guten alten Welt heraufbeschwören?

Es ist das westliche Narrativ, das bröckelt und es bröckelt schon eine ganze Weile. In Spenglers Abhandlung „Der Untergang des Abendlandes“ wird die Dekadenz des europäisch-amerikanischen Imperiums Anfang des 20. Jahrhunderts als Zeichen einer untergehenden Kultur beschrieben. Bei Albert Camus, nach zwei verheerenden Weltkriegen, ist der Westen nur noch eine arrogante, maßlose und inhumane Sklavengesellschaft, der nur durch Revolte zu entkommen ist: „Je révolte, donc nous sommes.“ - „Ich revoltiere, also sind wir.“ Das westliche Narrativ ist vor allem deshalb obsolet, weil sein imperialistischer Kulturanspruch nicht mehr einer Welt entspricht, die von post-kolonialen Frakturen durchzogen ist.

Der Machtverlust der westlichen Welt ist real. Die überschaubare, aber deswegen nicht minder gefährliche Blockteilung des Kalten Krieges im letzten Jahrhundert wurde zwar vorübergehend von einer amerikanisch dominierten unipolaren Zwischenzeit der Wirren abgelöst; langfristig bewegen wir uns aber auf eine Welt zu, in der ein wiedererstarkter Ostblock in neuem national-autokratischen Antlitz und Emerging Markets in Subregionen in Lateinamerika, Afrika und in Asien die Geschlossenheit des Westens herausfordern.

Innere Widersprüche werden uns vom Ausland mit dem Spiegel vorgehalten: Während Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und eine inklusive Gesellschaft beschworen werden, sprechen illegitime Kriegshandlungen unter Missachtung des Völkerrechts, Ausgrenzungstaktiken einer homogenen Kulturindustrie, die Verarmung von weiten Teilen der Bevölkerung und die Verschlechterung von Gesundheitsversorgung und Bildung eine andere Sprache. Ist unser Gesellschaftssystem deswegen am Ende?

Liberal-individualistische Gesellschaftsmodelle stehen seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft traditionellen Gemeinschaftsstrukturen gegenüber. Aber das Nationale gegen das Internationale auszuspielen, verkennt deren wechselseitige Verschränkung. Die bürgerliche Emanzipation und das Entstehen des Individualismus ist untrennbar an das Entstehen der Nationalkultur gebunden - die in Deutschland im europäischen Vergleich erst spät, nämlich im 19. Jahrhundert stattfand: erst in der Volkwerdung konnte die werktätige Bevölkerung sich gleichermaßen von außen betrachten und eine moderne Identität entwickeln, die demokratische Gesellschaften bis heute prägen.

Die Demokratie des 21. Jahrhunderts lebt durch die Diversität vernetzter Weltbürger

Eine apokalyptische Weltsicht über das Versagen unserer Institutionen zu entwickeln, ist absurd. Die Panikmache, die heutzutage polemisch von den Rändern der medialen Diskussion und von mächtigen Lobbies ins Zentrum der Auseinandersetzung getragen wird, ist einseitig, kontraproduktiv und ganz und gar nicht im Interesse der Mündigkeit. Im Gegenteil, sie sät Misstrauen und schadet der Mündigkeit in ihrer gesellschaftlichen Verankerung. Denn sie untergräbt diese in ihrer praktischen Verwirklichung als Demokratie, indem sie auf ihre Schwächung anstatt auf ihre Verbesserung hinwirkt.

Allen Unkenrufen zum Trotz sind die Voraussetzungen im Westen immer noch bestens. Die Demokratie ist ein Erfolgsmodell, das sich auf der Welt langfristig aber unaufhaltsam ausbreitet, Rechtssicherheit ist einer der wichtigsten Garanten für notwendige Investitionen, disruptive Geschäftsmodelle versprechen ein Gegengewicht zum maroden Finanzkapitalismus übermächtiger Konzerne. Das Internet erweitert mit Social Media und interaktiven Plattformen die gesellschaftliche Gewaltenteilung und macht die Demokratie fit für das 21. Jahrhundert, neue Arbeitsmodelle fördern die Emanzipation in Betrieben und die Vereinbarkeit mit der Freizeit. Darüber hinaus ist die westliche Welt durch ihren einzigartigen Wohlstand Anziehungsmagnet für Talente aus der ganzen Welt.

Die Demokratie des 21. Jahrhunderts lebt durch die Diversität vernetzter Weltbürger. Unsere breite und aktive Zivilgesellschaft ist Fortschrittmotor und Meinungsmacher. Sie bildet wechselnde Allianzen, organisiert sich agil in kommunikativen Schwärmen, die sich für Single Issue-Topics engagieren statt in Parteien programmatische Inhalte zu verfolgen. Dabei sind die Themen überall dort auf der Welt ähnlich, wo sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen angleichen: individuelle Selbstverwirklichung, angemessenes Konsumstreben, gute Bildung für alle, soziale Absicherung von Kranken und Schwachen, Bekämpfung von Korruption, Minderheitenrechte, nachhaltiger Klimaschutz – alle dies bewegt junge Leute in Afrika, Südamerika und Asien genauso wie im Westen.

Aber trotz aller Ähnlichkeit kann eine gesunde pluralistische Koexistenz nur durch die Aufrechterhaltung von Unterschieden funktionieren, die lokale Identitäten wahrt und gleichzeitig globale Kooperation gewährleistet. Wer dabei gewinnt, hängt nicht nur von der Leistung eines jeden Einzelnen ab, sondern auch von der Fähigkeit der Gesellschaft sich kritisch weiterzuentwickeln.

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