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Gesellschaft & Kultur > Der Westen muss aus der Corona-Krise Lehren für seine Strategie ziehen

Globale Politik bleibt Kampf um Macht

Eine frühe Lehre aus Corona: Sicherheit ist wieder zu einem Kernthema der internationalen Ordnung geworden. Und eine dauerhaft leistungsfähige Wirtschaft wird als Voraussetzung nicht nur für ein funktionierendes Gesundheitssystem erkannt.

simpix / photocase.com
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Die anhaltenden Erschütterungen, welche die Corona-Pandemie um den Globus senden, stellen nicht nur die Leistungsfähigkeit des Nationalstaats und den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft auf eine harte Probe. Sie wirken auch als Seismograph für die Bruchlinien und tektonischen Verschiebungen in regionalen Systemen und der gesamten Weltordnung. Obwohl es viel zu früh ist, zuverlässige Lehren aus der Krise zu formulieren, lassen sich doch schon bestimmte Problemzonen und Forderungen an künftige Strategien in groben Umrissen erkennen.

Im „alten“ Europa hat der moderne Verfassungsstaat bei aller Komplexität der Gewaltenverschränkung ein beachtliches Maß an Handlungsfähigkeit auch bei Maßnahmen gezeigt, welche in einer seit dem Zweiten Weltkrieg unerhörten Weise in die Freiheitssphäre des Einzelnen und den Gang des Wirtschaftslebens eingreifen.

Einschnitte in die individuelle Selbstbestimmung

Vereinzelt geblieben sind aufgeschreckte Stimmen, die einen allzu tiefen Einschnitt in die individuelle Selbstbestimmung beklagen oder gar den Vorrang der aus der Menschenwürde abgeleiteten Selbstbestimmung aller gegenüber dem Schutz des nachrangigen Lebens der besonders Gefährdeten fordern. Aber solche Abwehrreflexe in Ausnahmesituationen mit der Überhöhung der Würde gegenüber dem „bloßen Leben“ haben Tradition. Dies zeigt das kategorische Verbot, ein von Terroristen für einen Anschlag (wie am 11. September 2001) entführtes Flugzeug abzuschießen, bei dem die Rettung Tausender gegenüber der Würde der unschuldigen Passagiere zurückstehen soll. Ein solches Verbot hat die Rechtsprechung in Deutschland - und nur dort – ersonnen und damit ungewollt die Bundesrepublik als bevorzugten Kandidaten eines solchen Anschlages empfohlen (aber vielleicht lesen Terroristen keine Urteile).

Eine ähnliche Tendenz zur möglichst weiten Ausgrenzung von heiklen, aber vielleicht wirksamen Handlungsoptionen zeigt sich in der Forderung, vor dem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr als bewaffnete Macht in Katastrophenfällen einschließlich Terroranschlägen müsse das gesamte Bundeskabinett zusammengetrommelt werden. Hierin mögen böse Stimmen die Sozialisation ganzer Generationen von Verfassungsjuristen in behaglichen Schönwetterzeiten erkennen. Glücklicherweise geht es in der Pandemie nicht um den Schutz von Menschenleben mit bewaffneter Macht.  Aber vielleicht ist die Parallele zur beherzten Anforderung der Bundeswehr in der Hamburger Flutkatastrophe von 1962 nicht ganz verfehlt. Der Autorität des Grundgesetzes hat dies nicht geschadet.  Heute wird oft jede umstrittene Deutung des Grundgesetzes schnell als Verfassungsbruch hochgejazzt, auch wenn sie sich noch einem Korridor des Vertretbaren bewegt. Die beachtliche Resilienz der Gesellschaft in der Krise steht in einem eigenartigen Gegensatz zu fast panischen Ängsten der Warner vor einem Untergang von Rechtstaat und Demokratie.

Nur in Ungarn wurde die Krise zur ernsthaften Machterweiterung genutzt

Das aktuelle Krisenmanagement in Deutschland scheint jedenfalls das boshafte Wort zu widerlegen, die Bundesrepublik sei „die Staat gewordene Verneinung des Ernstfalls“ (Johannes Gross). In Europa hat die naheliegende Sorge, die Regierung könne die Krise „als Stunde der Exekutive“ zum Anlass dauerhafter Machterweiterung nutzen, nur in Ungarn eine ernsthafte Bestätigung erfahren.  Auch bei den weitgehenden Ermächtigungen der Exekutive im jüngsten Infektionsschutzgesetz, über die man im Einzelnen mit guten Gründen streiten kann, sitzt das Parlament mit der Erklärung einer  pandemischen Lage von nationaler Tragweite am entscheidenden Hebel.

Auf globaler Ebene zeigen sich die seit einiger Zeit vertrauten Mechanismen des politischen Realismus, in denen nationale Interessen und die Mehrung geopolitischen Einflusses dominieren. Die Regierungen Russlands und der Volksrepublik China – und leider auch das Weiße Haus -  agieren auch in der Corona-Krise ganz mit den bekannten Großmacht-Attitüden und im Sinne nationaler Egoismen: Politik als Kampf um Macht, als „struggle for power“. Selbst der Umgang mit Fakten ist hier ein Kampfinstrument im Wettbewerb, nach innen wie nach außen.  Nichts Neues also für die Leser von Hans J Morgenthaus Nachkriegsklassiker „Politics among Nations“.

Nur scheinbare Solidarität

Selbst die scheinbar solidarische Lieferung von medizinischen Gütern etwa durch die Volksrepublik China hat herzlich wenig mit Solidarität zu tun. Dafür umso mehr mit der Konkurrenz der politischen Systeme und dem Wettbewerb um technologische und industrielle Überlegenheit, auch mit dem Streben nach Reputationsgewinnen. Längst kämpft China nicht nur wirtschaftlich und machtpolitisch um einen postkolonialen „Platz an der Sonne“. Es geht der Volksrepublik auch um einen moralisch-intellektuellen Führungsanspruch, um eine Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber entschlussschwachen und von kosmopolitischen Wunschträumen getriebenen Demokratien des Westens aufzuzeigen.

Die Corona-Pandemie hat in der Rangfolge unserer Prioritäten einen tiefgreifenden, vielleicht anhaltenden Wandel angestoßen. Sicherheit ist wieder zu einem Kernthema der internationalen Ordnung geworden. Die Rettung des Weltklimas wird selbst im bildungsbürgerlich-ökologisch geprägten Segment westlicher Industriegesellschaften von unmittelbarer Sorge um die physische Sicherheit etwas in den Hintergrund gedrängt. Es wächst die Einsicht, dass eine dauerhaft leistungsfähige Wirtschaft nicht nur Voraussetzung eines funktionierenden Gesundheitssystems ist, sondern auch die Rettung von Klima und Umwelt einen hohen Preis hat, der erst einmal erwirtschaftet werden will. Dass wirtschaftliche Einbrüche einen ungewollten Beitrag zum Klimaschutz leisten, wissen wir seit dem Kollaps der sowjetischen Schwerindustrie.

Europas eigene Stärke

Die zumindest konjunkturelle Unzuverlässigkeit der USA zwingt Europa wieder einmal zur Rückbesinnung auf die eigene Stärke – in der Krise und in der Vorbereitung auf die nächsten Erschütterungen, also reaktiv und präventiv.

In der Europäischen Union hat das Ringen um das rechte Maß an Solidarität gerade erst begonnen. Hier sind die legitimen Forderungen der schon vor der Krise schwankenden Euro-Länder mit  den Grenzen der Belastungen in Einklang zu bringen, welche die noch leistungsfähigen Mitglieder wie Deutschland oder die Niederlande ihren eigenen Bürgern im Dienste der Solidarität auferlegen können.

"Corona-Bonds" hätten pandemische Wirkung

Der Einsatz des ESM und der Finanzhilfen der Europäischen Investitionsbank sind schon Ausdruck einer beachtlichen Solidarität, die auch die Frucht einer ebenso beachtlichen Haushaltsdisziplin der Mitglieder ist. Der Ruf nach einer vergemeinschafteten Haftung in Form von „Corona-Bonds“ überspannt die fairerweise gebotene Solidarität bei weitem. Solche Euro-Bonds wären in einem weiteren Sinne pandemisch, weil sie die Grundprinzipien der europäischen Währungsunion gewissermaßen selbstreplizierend angreifen. Sie drohen auch die dauerhafte Akzeptanz der Europäischen Union im geographischen Zentrum Europas zu erschüttern. Im Übrigen wird es für die Regierungen mancher Mittelmeerländer eine fundamentale Herausforderung sein, die in Zeiten der Solidarität bereitgestellten Mittel erst einmal einer effektiven Verwendung zuzuführen.

Zum Schluss: Wie bei wirtschaftlichen oder militärischen Konflikten stellt sich auch bei vermeintlichen Epidemien das Problem der strategischen Überraschung.  Die nicht sehr weit auseinander liegende Wiederkehr von Virus-Pandemien allein in den letzten Jahrzehnten ist eine deutliche Mahnung, die zumindest im Ansatz entwickelten strategischen Konzepte ernst zu nehmen und umzusetzen. Dies gilt für die Bereithaltung medizinischer Ressourcen und die mögliche Umwidmung industrieller Kapazitäten ebenso wie für die Strategie der Kommunikation. So wächst auch in der vermeintlichen Schicksalshaftigkeit das Vertrauen in die eigenen Abwehrkräfte.

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Dieser Aufsatz von Prof. Dr. Matthias Herdegen wird auch in der Print-Ausgabe von TheEuropean und Die Gazette veröffentlicht, die in diesen Tagen erscheint.

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