Der Bundestag will große Verkehrsprojekte künftig direkt beschließen
Der Bundestag will große Verkehrsprojekte künftig direkt beschließen – und zieht damit den Zorn der Umweltverbände auf sich. Warum die Bundesregierung trotzdem hart bleiben sollte.

Glaubt man Nabu-Bundesgeschäftsführer Leif Miller, ist der Rechtsstaat ernsthaft bedroht.[1] Wie das? Droht ein Putsch von Extremisten? Schlimmer noch! Offenbar sitzen die Feinde der Rechtsordnung bereits auf der Regierungsbank: Am 29.01.2020 beschloss der Verkehrsausschuss gegen die Stimmen von Grünen und Linken eine Reihe von Infrastrukturprojekten, darunter mehrere neue Eisenbahnstrecken. Wer das weder bedrohlich noch besonders spannend findet, muss eines wissen: Statt per Gesetz wird in Deutschland üblicherweise über einen Verwaltungsakt Baurecht geschaffen.[2]
Hintergrund ist das ungelöste Problem der Planungsbeschleunigung. Selbst technisch anspruchslose Schienenprojekte brauchen in Deutschland mittlerweile Jahrzehnte. Ein aktuelles Beispiel: Die Planungen für die Ende 2017 eingeweihte neue Schnellstrecke zwischen München und Berlin begannen bereits im Jahr 1993, ursprünglich geplant war eine Fertigstellung im Jahr 2000.[3] Auch bei der Energiewende, einem Herzensprojekt der Grünen, hakt es an allen Ecken und Enden. Der Ausbau der Windkraft an Land ist praktisch zum Erliegen gekommen, auch der notwendige Ausbau der Stromleitungen hinkt den Planungen um Jahre hinterher. Kritiker der Energiewende haben allerdings keinen Grund zur Schadenfreude, denn jede technologische Option, egal ob Windrad oder Kernkraftwerk, Autobahn oder Schnellzug, setzt voraus, dass Anlagen und Infrastruktur in angemessener Zeit errichtet werden können - und genau diese Bedingung ist nicht mehr gegeben. Die grüne Bundestagsfraktion denkt zwar auch, dass Großprojekte des Energie- und Verkehrssektors in Deutschland zu lange brauchen, stimmte aber dennoch gegen die Vorlage. Im Interview mit der ZEIT sprang deren verkehrspolitische Sprecher, Stephan Kühn, den befreundeten Umweltverbänden zur Seite: „Anders als bisher soll Baurecht durch ein Gesetz auf Beschluss des Bundestags geschaffen werden. Das führt dazu, dass den Bürgerinnen und Bürgern und den Umweltverbänden das Klagerecht genommen wird. Möglich wäre nur noch eine Verfassungsbeschwerde.“[4]
Und die Alternative? Dafür wärmt der Grünen-Politiker einen alten Mythos über Bürgerbeteiligung wieder auf: „Frühzeitige Bürgerbeteiligung verhindert Konflikte und Klagen“.[5] Einmal abgesehen von der Tatsache, dass ein solcher Zusammenhang niemals wissenschaftlich bewiesen werden konnte[6], spricht auch empirisch einiges dagegen: Seit der traumatischen Auseinandersetzung um Stuttgart 21 hat das Land eine tiefgreifende Beteiligungsexpansion erlebt, Bürgerinnen und Bürger haben bei Großprojekten mehr Mitsprachemöglichkeiten als jemals zuvor.[7] Von der erhofften Wirkung fehlt bisher allerdings jede Spur: Nach Auffassung des nationalen Normenkontrollrats wurden bei der Planungsbeschleunigung in den letzten Jahren keine substantiellen Fortschritte erzielt.[8] Auch sind Anzahl, Dauer und Komplexität der entsprechenden Gerichtsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht keineswegs zurückgegangen, sondern weiter gestiegen, wie dessen Präsident jüngst für die Presse bestätigte.[9] Ergo: Wenn der Ausbau der Beteiligung dazu beitragen sollte, Konflikte zu verhindern und Infrastrukturprojekte zu beschleunigen, dann ist dieses Ziel krachend verfehlt worden.
Der nunmehr eingeschlagene Pfad weist dagegen gleich mehrfach in die richtige Richtung: Eine Parlamentsmehrheit trägt damit erstmals der Tatsache Rechnung, dass Infrastrukturprojekte in Deutschland eben nicht am fehlenden Geld oder mangelndem politischen Willen scheitern, sondern an schlechter Regulierung, überbordender Bürokratie und langjährigen Gerichtsprozessen. Diese Faktoren haben die Planbarkeit und Rechtssicherheit für Projektträger dermaßen erodieren lassen, dass selbst die Umsetzung technisch anspruchslose Zugverbindungen einem jahrzehntelangen Drahtseilakt gleichkommt. Die Gesetzesform bildet nun eine Art politischen Bypass, der lebenswichtige Innovationen an den sklerotischen Verwaltungsverfahren vorbeischleust. Dabei ist leistungsfähige Infrastruktur eine gesamtstaatliche Zukunftsaufgabe, die man nicht einfach in die Niederungen der Verwaltung auslagern darf. Die wichtigsten Projekte gehören in den Bundestag, damit deren Charakter als demokratische Mehrheitsentscheidung für die Öffentlichkeit sichtbar wird. Auch die jeweilige politische Urheberschaft wird dadurch transparent, so dass lokale Planungsbehörden im Konfliktfall nicht mehr als Blitzableiter herhalten müssen. Der lautstarke Protest der Fraktionen von Grünen und Linken rührt wohl nicht zuletzt daher, dass sie unbequeme Verkehrsprojekte künftig mit offenem Visier bekämpfen müssen. Im Parlament für Bundesbedarfspläne und Verkehrswegeplanung stimmen und anschließen im eigenen Wahlkreis gegen Bahngleise und Stromtrassen demonstrieren – diese Spielart des politischen Schlawinertums wird durch die Gesetzesform für Einzelprojekte erschwert. Gut so!
Bleibt die wütende Reaktion der großen Umweltverbände, deren Selbstverständnis und Öffentlichkeitsarbeit sich zunehmend um die Verbandsklagen gegen Infrastrukturprojekte kristallisiert. Nabu-Bundesgeschäftsführer Leif Miller verstieg sich zu der erwähnten Aussage, es drohe ein "Angriff auf den Rechtsstaat".[10] Nach dieser Logik wäre unser friedfertiger Nachbar Dänemark längst ein autoritärer Unrechtsstaat: Dort ist es nämlich völlig normal, dass der „Folketing“ Infrastrukturprojekte per Gesetz beschließt.[11] Das Ergebnis sieht man u.a. am Fehmarnbelt, wo die Dänen bereits mit dem Tunnelbau begonnen haben, während auf deutscher Seite die übliche Prozesslawine rollt.[12] Auch in Frankreich mit seiner langen republikanischen Tradition behält es sich die Nationalversammlung vor, Einspruchsmöglichkeiten gegen Großprojekte einzuschränken, wenn ein besonderes nationales Interesse vorliegt. Miller und andere führen die Öffentlichkeit also bewusst in die Irre, indem sie eine spezifisch deutsche Tradition des Regulierens zum Signum von „Rechtsstaatlichkeit“ verklären. In einem Rechtsstaat handeln Regierung und Verwaltung im Rahmen der bestehenden Gesetze, aber diese sind - mit Ausnahme der Grundrechte - eben nicht in Stein gemeißelt, sondern werden in demokratischen Prozessen den Gegebenheiten angepasst. Dagegen hat Rechtsstaatlichkeit rein gar nichts mit der schieren Menge an Regeln und Klagemöglichkeiten zu, dafür aber ganz entscheidend mit Kriterien wie Rechtssicherheit - und diese ist für Bauprojekte einer bestimmten Größe in Deutschland kaum mehr gegeben, wie zahlreiche Expertenurteile bestätigen.[13] Ein Grund dafür sind auch die Komplexitäten und Widersprüche des deutschen Umweltrechts, dessen Vereinheitlichung und Harmonisierung als Umweltgesetzbuch trotz mehrerer Versuche wiederholt misslang. Das stört die grünen Vorkämpfer des Rechtsstaats aber weniger, im Gegenteil: Nicht selten haben sie es sich im sinnstiftenden und arbeitsbeschaffenden Chaos des Umweltrechts bequem gemacht - der Austausch zwischen Bürokraten und Aktivisten verläuft in diesem Bereich harmonisch und fließend. Zu guter Letzt wirkt die Sorge um den Rechtsstaat aus dieser Ecke schon deshalb arg gekünstelt, weil organisierte Umweltschützer in Deutschland seit jeher an zahlreichen illegalen Aktionen beteiligt waren: Von der “Feldbefreiung” bis „Ende Gelände” - seit der linksökologischen Wende der 1970er Jahre gehört das Kokettieren mit dem Regelbruch praktisch zur DNA der deutschen Umweltbewegung.
Die Große Koalition orientiert sich bei ihrem Vorgehen an einem Präzedenzfall, den sogenannten “Investitionsmaßnahmengesetzen” aus den Jahren nach der Wiedervereinigung. Proteste gab es damals auch, aber am Ende hatte das Vorgehen der schwarz-gelben Bundesregierung vor dem Verfassungsgericht Bestand. Die aktuelle Parlamentsmehrheit tut gut daran, sich dieser Option zu erinnern, denn die Krise der Investitionstätigkeit im Land ist mit Händen zu greifen: Im vergangenen Jahr musste Finanzminister Scholz seine Kabinettskollegen geradezu anflehen, die vorhandenen Investitionsmittel abzurufen: „Wir mobilisieren schon heute Milliarden für den Klimaschutz, für bessere Schulen, neue Straßen und sozialen Wohnungsbau – und stellen am Jahresende regelmäßig fest, dass viel Geld nicht abgerufen wird.“[14] Der Rückstau summiert sich auf mehr als 15 Milliarden Euro. Oft wird über mehr Schulden oder höhere Steuern geredet, wenn es heißt, der Staat müsse mehr investieren. Dabei hakt es gar nicht am Budget, sondern an der Umsetzung. Ursächlich sind, neben dem Fachkräftemangel und der Unterkapazität am Bau, die Dauer und Anfechtbarkeit der Planungs- und Genehmigungsverfahren. Fachkräfte und Baufirmen kann der Staat aber nicht herbeizaubern, und so lautet die harte Wahrheit: wenn das Land in absehbarer Zeit eine moderne und umweltfreundliche Infrastruktur haben möchte, müssen die rechtlichen Hürden für Großprojekte sinken. Dazu ist die Gesetzesform ein mächtiger Hebel, denn Gesetze sind deutlich schwieriger zu beklagen, als die sonst üblichen Verwaltungsverfahren, welche in Bezug auf Komplexität und Anfechtbarkeit europaweit ihresgleichen suchen.[15]
Für weniger Bürokratie sind angeblich alle, dennoch löst der Begriff “Deregulierung” in weiten Kreisen Würgereflexe aus. Klingt neoliberal, ergo: böse. Dabei geht es weniger darum, den Paragraphendschungel mit der Axt zu lichten, sondern darum besser und vor allem konstruktiver zu regulieren. Mittlerweile dämmert selbst den Grünen, dass die von ihnen erträumte Energiewende unter geltendem Recht nicht umsetzbar ist. Mag sich die Partei auch weiter öffentlichkeitswirksam an den Mythos “Beschleunigung durch Beteiligung” klammern, wird sie spätestens im Falle einer Regierungsbeteiligung liefern müssen. Einen Energieminister Altmaier als Sündenbock für den blockierten Windkraftausbau wird es dann nicht mehr geben.[16] Spätestens wenn ein Grüner den Umbau des Energiesystems verantwortet, werden die strukturellen und regulatorischen Probleme bei der Umsetzung von Großprojekten offen zutage treten. Angesichts der vorhandenen aber nicht abgerufenen Milliarden für Investitionen im Bundeshaushalt verliert das alte Narrativ vom fehlenden Geld zunehmend an Überzeugungskraft. Am Ende bleiben nur Recht und Gesetz. Hier liegt der archimedische Punkt, von dem aus die Investitionsschwäche behoben werden kann.
Herr Miller und der Nabu sollten das Vorgehen der Bundesregierung als Chance begreifen: Anstatt weiter aus dem juristischen Hinterhalt gegen große Infrastrukturprojekte vorzugehen, können sich die Naturschützer nun darauf konzentrieren, im demokratischen Meinungsstreit politische Mehrheiten gegen Brücken, Strommasten und Eisenbahnschienen zu organisieren. Viel Erfolg dabei! Sachlicher, offener Meinungsstreit und weniger politisches Partisanentum täten dem Land gut. Es gibt noch andere Hindernisse für Infrastruktur in Deutschland, aber man kann der Bundesregierung in diesem Fall nur raten, dass sie an ihrem Kurs festhält und unter der zu erwartenden Protestwelle grüner NGOs nicht einknickt. Es wäre zum Wohle des Landes und auch zum Wohle der Natur, denn ohne moderne Infrastruktur sind weder digitale Innovationen, noch eine Verkehrswende oder die umfassende Dekarbonisierung der Energiesysteme denkbar.
[1]www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-will-ausgewaehlte-verkehrsprojekte-beschleunigen-a-ee185fe1-f1c0-43da-8066-8535889babfa
[2] dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/156/1915619.pdf
[3] de.wikipedia.org/wiki/Verkehrsprojekt_Deutsche_Einheit_Nr._8
[4]www.zeit.de/mobilitaet/2020-01/planungsbeschleunigung-verkehrsprojekte-bundestag-buergerbeteiligung-bahnstrecken-wasserstrassen-genehmigung-gesetzespaket
[5]www.zeit.de/mobilitaet/2020-01/planungsbeschleunigung-verkehrsprojekte-bundestag-buergerbeteiligung-bahnstrecken-wasserstrassen-genehmigung-gesetzespaket
[6] Matthias Bergmann et al.: „Gesellschaftliche Partizipationsprozesse, partizipative Forschungsmethoden und Methoden der Wissensintegration“, Februar 2018 (http://transformation-des-energiesystems.de/sites/default/files/WiKo_Partizipationsstudie.pdf); Oscar W. Gabriel: „Bürgerbeteiligung an Großprojekten: Ausdruck lebendiger Demokratie oder das Lernen, die bittere Pille zu schlucken?“, in: Hermann Hill et al. (Hg.): „Brauchen wir eine neue Verfassung? – Zur Zukunftsfähigkeit des Grundgesetzes“, Duncker & Humblot, S. 31; Christoph Ewen et al.: „Bürgerdialog bei der Infrastrukturplanung: Erwartungen und Wirklichkeit: Was man aus dem Runden Tisch Pumpspeicherwerk Atdorf lernen kann“, S. 17.
[7] www.bipar.de/joerg-sommer-mehr-partizipation-denken/
[8]www.normenkontrollrat.bund.de/resource/blob/300864/1600406/f0613bfaa6ea13b6a35d756672387d29/2019-04-17-nkr-gutachten-2018-data.pdf
[10] www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-will-ausgewaehlte-verkehrsprojekte-beschleunigen-a-ee185fe1-f1c0-43da-8066-8535889babfa
[11] bdi.eu/media/user_upload/20131024_BDI_Verkehrsinfrastruktur_Langfassung_gesamt.pdf
[12] www.welt.de/regionales/hamburg/article197873047/Grenzueberschreitendes-Projekt-Warum-sich-Deutschland-am-Fehmarnbelt-so-schwer-tut.html
[13] bdi.eu/media/user_upload/20131024_BDI_Verkehrsinfrastruktur_Langfassung_gesamt.pdf; www.normenkontrollrat.bund.de/resource/blob/300864/1600406/f0613bfaa6ea13b6a35d756672387d29/2019-04-17-nkr-gutachten-2018-data.pdf;
[14]www.welt.de/politik/deutschland/article201085758/Olaf-Scholz-Bitte-nehmt-das-Geld-15-Milliarden-Euro-ungenutzt.html
[15] bdi.eu/media/user_upload/20131024_BDI_Verkehrsinfrastruktur_Langfassung_gesamt.pdf
[16] www.sueddeutsche.de/politik/windraeder-abstand-gruene-1.4683148